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Interview
Brecht-Preisträger Lutz Seiler: "Wir mussten stundenlang zu Brecht exerzieren"
Der Schriftsteller Lutz Seiler erhält den Bertolt-Brecht-Preis der Stadt Augsburg. Ein Gespräch über seine Kindheit, die Unbedingtheit des Schreibens und ein verrücktes Projekt.
Birgit Müller-Bardorff
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:22 Uhr

Herr Seiler, am Donnerstag wird Ihnen in Augsburg der Bert-Brecht-Preis verliehen. Waren Sie schon einmal in Augsburg?

Lutz Seiler: Ja, ich war schon einmal 2006 bei einer Veranstaltung des Brechtfestivals, das ist mir jetzt in Vorbereitung zu der Preisverleihung wieder eingefallen. Ich habe damals sogar ein Gedicht geschrieben für diese Veranstaltung, ein Gedicht im Ton der "Buckower Elegien".

Sie verbinden also Augsburg dezidiert mit Bertolt Brecht?

Seiler : Absolut, an erster Stelle mit Brecht und an zweiter mit dem FC Augsburg, weil er in der Lage ist, die Bayern zu ärgern - und das finde ich ganz großartig.

Sie sind auch Fußball-Fan?

Seiler: Meine ganze Kindheit bestand aus Fußball.

Viel Fußball also in Ihrer Kindheit, aber wenig Bücher, wie über Sie zu erfahren ist. Zum Lesen kamen Sie erst während Ihrer Zeit beim Militärdienst in der Nationalen Volksarmee.

Seiler: Ich hatte kein musisches Elternhaus, eher ein kleinbürgerliches minus Kultur, meine Mutter kam vom Bauernhof, mein Vater war Weber. Jede Begegnung mit Literatur war neu und etwas vollkommen Eigenes. Eine häusliche Bibliothek mit ihrer Autorität stand jedenfalls nicht im Weg, als ich zu schreiben begann, was sicher auch Vorteile hatte.

Was brachte Sie denn dann in der Militärzeit zum Lesen?

Seiler: Das war eine etwas verrückte Geschichte. Als Soldaten machten wir in unserer Freizeit Laubsägearbeiten - thüringischen Weihnachtsschmuck wie Schwibb-Bögen oder Kerzenhalter. Ich hatte kein Talent dafür, oft ist mir das Sägeblatt zerbrochen und irgendwann verbannten mich meine Kameraden vom Tisch. Ich musste meine Zeit dann anders füllen und begann zu lesen.

Mit dem Lesen begannen Sie sofort auch Gedichte zu schreiben. Warum das?

Seiler: Warum das geschieht? – überwältigend unbeantwortbar, hätte Gottfried Benn gesagt. Ich glaube, das Schreiben setzt sich mit einer gewissen Unbedingtheit durch, die jenseits aller Erklärungen und vernünftigen Argumente existiert. Eigentlich gibt es kein einziges vernünftiges Argument dafür, Gedichte zu schreiben, eher spricht sehr viel dagegen. Es geschieht mit dieser Unbedingtheit, die ihrem Autor eingeschrieben ist – oder es geschieht nicht. Das begründet auch die Exklusivität des Genres, das utopische Potential des Gedichts, da es jenseits aller Gewinnerwartung und jenseits aller üblichen Vorstellungen von Nützlichkeit entsteht. 

Immerhin hat Ihnen das Schreiben, vor allem dann das der Romane "Kruso" und "Stern 111" namhafte Preise wie den Deutschen Buchpreis oder den Preis der Leipziger Buchmesse eingebracht. Welche Rolle nimmt der Brechtpreis in dieser Reihe ein?

Seiler: Ich freue mich unheimlich darüber, es ist ein ganz besonderer Preis. Das bemerke ich auch an den Reaktionen meiner Freunde. Der Preis trägt den Namen eines Weltautors, der Name adelt den Preis. Ich bin mit einer Schwedin verheiratet, und gerade unsere schwedischen Freunde haben auf diesen Preis besonders reagiert. Brecht, der in Skandinavien ja auch im Exil war, wird dort sehr geschätzt. In Stockholm, wo ich lebe, stehen seine Stücke bis heute regelmäßig auf dem Spielplan der großen Theater.

Und Ihr persönliches Verhältnis zu Brecht?

Seiler: Zuhause hatten wir zwar keine Bücher, aber im Literaturunterricht der DDR sind wir mit Brecht groß geworden. Die ideologisierte Lesart hat uns den Dichter verleidet und seinen Namen regelrecht verwüstet. Das Lieblingslied unseres Kommandeurs bei der Armee war Brechts "Solidaritätslied", was zur Folge hatte, dass wir stundenlang nach diesem Lied exerzieren und es singen mussten. Das waren nicht die günstigsten Rezeptionsumstände.

Konnten Sie Brecht später für sich neu entdecken?

Seiler: Brecht ist einfach zu groß, als dass er einem nicht irgendwann auch anders begegnen musste. Bei mir waren es die Vertonungen von Kurt Weill und die Interpretationen von Lotte Lenya, die gingen mitten ins Herz, könnte man sagen. So großartig und zugleich schräg und surreal, einfach unübertroffen. Das öffnete natürlich die Tür zum Werk auf eine ganz andere Weise – man hatte Lust, etwas zu machen mit Brecht, was dann auch zu unserem verrückten Exil-Projekt führte, während meines Aufenthalts in der Villa Aurora in Los Angeles.

In der ehemaligen Villa Lion Feuchtwangers hielten Sie sich als Stipendiat auf.

Seiler: Ja, wir waren zu dritt und irgendwie alle in einer gewissen Lebenskrise. An einem Abend mit viel Alkohol entstand die Idee, historische Fotografien aus der Zeit des Exils nachzustellen. Es gab drei Rollen: Der Videokünstler Philipp Lachenmann war Brecht, weil er einfach so aussah. Der Zweite, Jens Brand, gab einen bestechender Feuchtwanger. Er war nur etwa doppelt so groß wie Feuchtwanger, weshalb er immer auf einem Kissen knien musste beim Fotografieren. Für mich blieb, jenseits aller Ähnlichkeit, die Rolle Thomas Manns. Für ein paar Tage war ich Thomas Mann. Das war ein großer Spaß, einerseits, und andererseits die freieste künstlerische Arbeit, die ich je gemacht habe.

Die Jury des Brechtpreises würdigt unter anderem den "magischen Sound" Ihres Schreibens. Wobei das Wort "Sound" durchaus wörtlich zu verstehen ist.

Seiler: Vielleicht ist es tatsächlich so, dass ich mich auch in der Prosa auf eine Weise bewege, wie ich es in den Gedichten eingeübt habe, nach musikalischen Mustern. Ich habe eine bestimmte Klangfolge im Ohr, die ich im Ton meiner Prosa realisieren möchte. Durch diese musikalische Vorstellung von Klang und Rhythmus werden ein bestimmtes Vokabular und ein bestimmter Satzbau aufgerufen. Ich muss also immer laut sprechen, um zu hören, ob der Satz stimmt. Das Ohr ist mein Kontrollorgan.

Da geht es in Ihrem Dichterstübchen also nicht so leise zu, wie man sich das gemeinhin vorstellt.

Seiler: Man muss dafür allein sein, wenigstens in einem eigenen Zimmer. Das kann man niemandem zumuten, einen Satz hundert Mal hintereinander zu hören.

Ihre beiden Romane "Kruso" und "Stern 111" werden als Wenderomane gefeiert. Warum lässt Sie diese Zeit nicht los?

Seiler: 1989 ist eine welthistorische Zäsur, eben auch über Europa hinaus. Der Osten Deutschlands war davon besonders betroffen – der Systemwechsel, die neuen Perspektiven und Verheißungen, die plötzlich im Raum standen. Ich glaube, für einen Autor meiner Generation ist es fast unmöglich, nicht über diese Zeitenwende 89/90 zu schreiben. Es ist das prägende Erlebnis meiner Generation.

In "Stern 111", aus dem Sie bei der Preisverleihung auch lesen werden, gehen Sie in einem zweiten Erzählstrang, in dem es um die Eltern Ihres Protagonisten geht, auf die kulturelle und menschliche Entwertung der Ostdeutschen nach dem Fall der Mauer ein. Ist das eine Erfahrung, die Sie selbst auch gemacht haben?

Seiler: Ich beobachte, dass Ressentiments, soziale Ungleichheiten und ökonomische Benachteiligungen, um es vorsichtig zu sagen, auch über 30 Jahre nach der Wende noch vorhanden sind. Statistisch ist das alles gut belegt. Und die Ostdeutschen werden noch immer als „das Andere“ wahrgenommen, als Abweichung von der Norm und vom „Normalen“, das der Westen für sich beansprucht. Der Westen ist die Norm und im Osten leben die „Andersdeutschen“.

Aktuell zeigt sich das ja gerade an den Äußerungen des Springer-Chefs Mathias Döpfner.

Seiler: Was soll man sagen, das ist einfach nur entsetzlich. Auch ziemlich erschreckend. Ich unterstelle, dass er nicht für die Mehrheit der Westdeutschen spricht, aber es bestätigt natürlich alle Vorurteile. Und er bestätigt, was Dirk Oschmann gerade in seiner sehr erfolgreichen Wutschrift „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ über die diskursive Konstruktion des Ostens durch den Westen formuliert hat. Auch den Figuren in meinem Roman "Stern 111" begegnet diese Haltung, aber der Westen ist eben nicht das Ziel ihrer Träume. Die stehen da ein bisschen drüber, weil sie den Rock 'n' Roll im Herzen haben, und ihr Ziel ist ein ganz anderes, das geht über die deutsch-deutsche Misere hinaus, ins Freie, könnte man sagen. Sie tragen im Herzen einen Traum, der das alles übersteigt, das war die befreiende Idee für die Konstruktion des Romans. Vielleicht fehlt unserem Land ja gerade diese gute, alles übersteigende Idee, die Osten und Westen verbinden könnte.Die Verleihung des Bertolt-Brecht Preises am Donnerstag, 20. April, um 19 Uhr im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses ist öffentlich und kostenlos. Um Mail-Anmeldung über brechtpreis@augsburg.de wird gebeten.

 
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