Nein, diese 20 Erzählungen, die der inzwischen in Berlin lebende russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in dem Buch „Geschichten aus der Heimat“ zusammengefasst hat, sind keine Science Fiction wie sein Bestseller „Metro 2033“. In seinen jetzigen „Geschichten aus der Heimat“ versucht Glukhovsky, sich darüber klar zu werden, was mit Russland passiert ist. Es sind Geschichten aus der russischen Realität noch vor dem Ukraine-Krieg, Geschichten über Menschen, die Teil eines menschenverachtenden Systems sind, das jede Vorstellungskraft sprengt.
In „Alles hat seinen Preis“ verfängt sich ein tadschikischer Gastarbeiter in einem skrupellos gesponnenen Organ-Handelsnetz. In „Sibirische Weisheit“ plagt sich ein Minister in der Mitte des Lebens mit Zukunftsängsten herum, weil er das beste Leben und die größte Machtfülle schon genossen hat. In „Die wichtigste Nachricht“ versucht ein junger Journalist vergeblich, gegen die alles erdrückende Präsidenten-Präsenz durchzudringen.
Ein russischer Oligarch scheitert in "Utopia"
In „Utopia“ scheitert ein selbstbewusster russischer Oligarch daran, seinen Traum von Paris zu verwirklichen, weil er sich in Frankreich so benimmt, wie er es von Russland gewohnt ist: „,Folgendes, Chef!’, wandte sich Iwan Nikolajewitsch an den Geschäftsführer, der geradezu unschicklich braun gebrannt war, und steckte ihm einen Fünfhunderter in die Brusttasche. ,Besorg uns einen guten Platz, damit ich die Glocken der Weiber gut sehen kann. Wir sind gerade erst aus Russland ausgebüxt. Ihr habt doch Frischfleisch, oder?’ Er klopfte dem Geschäftsführer wie ein alter Stammkunde auf die Schulter, wobei er seinen Legionär mit einem eindringlichen Blick zum Dolmetschen aufforderte. ,Je regrette, monsieur, mais vous devez faire la queue, comme tout le monde’, erwiderte der Geschäftsführer bloß. ,Je ne comprends pas!’ blaffte ihn Iwan Nikolajewitsch an, und seine Finger formten den fast schon vergessenen Teufelsgruß. Diesem Kerl würde er die Augen ausstechen! Wann war ihm zum letzten Mal etwas abgeschlagen worden?“
In „Futter für thailändische Welse“ schließlich wird sogar der Präsident Opfer von Fake News, beziehungsweise von Potemkinschen Dörfern, die seine Entourage um ihn aufbaut: „Wo er seinen Blick hinlenkt, da weicht der ewige Schlummer fieberhaftem Tun. Da erhält das Krankenhaus einen Tomografen, der Wohnbezirk Heizöl und die Fabrik endlich den Staatsauftrag… Wo der Präsident auftaucht, da brodelt das Leben. Wo der Schatten seines Fliegers hinfällt, da erblühen Blumen, da sprießt das Korn. Da sprudeln die Gelder wie frisches Blut in die welken, von Ablagerungen verstopften Gefäße der lokalen Politik.“
Diese Geschichten öffnen Türen in ein zunehmend befremdliches Land, das vom „unausrottbaren Schimmel der Korruption“ befallen ist. Glukhovsky bezeichnet sie als Zerrspiegel und wünscht seinem Heimatland „die Austreibung der Dämonen, die von ihm Besitz ergriffen haben“. Aber erst einmal hat Russland seinen Dichter zur Fahndung ausgeschrieben…
Dmitry Glukhovsky: Geschichten aus der Heimat. Heyne, 445 S., 24 €.