Es ist eine Geschichte um das Altern. Diesen Prozess würdevoll zu bewältigen, gleicht in einer Hochleistungsgesellschaft einer prekären Formel. Das Altern wird überall mit negativen Attributen versehen: Mängel, Leistungseinbußen, eine Last für andere und die Gesellschaft. Wenn eine Horde greiser Halbwüchsiger, zwei gut 80-Jährige und ein Jungspund von 76 Lenzen, noch einmal richtig Gas gibt, dann geht es um nichts anderes als um einen angemessenen Abgang. Nicht still und heimlich durch den Hinterausgang, sondern – Bäng! Bam! Bumm! – jedem zeigen wollend, wie groß der Verlust sein wird, wenn sie einmal nicht mehr da sein sollten. Aber noch gibt es sie leibhaftig, die Herren Jagger, Richards und Wood, frisch, gewohnt unfromm, erstaunlich fit. Irgendwie wirkt das, was man zu hören bekommt, wie ein wunderbarer Anachronismus: Die Rolling Stones bringen mit "Hackney Diamonds" (Polydor/Universal) am 20. Oktober ihr erstes Album mit neuen Songs seit "A Bigger Bang" vor 18 Jahren heraus. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es ihr letztes.
Man darf es einfach mal voraussetzen: Dabei ging es nicht ums Geld. Ist sowieso im Überfluss vorhanden. Die Maschinerie läuft seit Jahrzehnten auf Hochtouren, gespeist durch gigantomanische Tourneen, Best-ofs, Deluxe-Wiederveröffentlichungen. Die Rolling Stones wollen nach Jahren der spür- und hörbaren Ermüdung noch einmal ein überall vernehmbares Zeichen setzen: Wir sind immer noch da! Nicht wie andere Bands, die wie flaue Kopien ihrer selbst klingen, matt, nur mithilfe medizinischer und technischer Errungenschaften noch einmal ins Studio gekarrt. Die Stones sind anders. Da brennt noch ein stattliches Feuer, nach mehr als 60 Jahren.
In "Hackney Diamonds" zeigen die Rolling Stones, wie echter Rock zu klingen hat
Ausschlaggebend dafür war wohl der Tod von Charlie Watts im September 2021, ein Warnschuss an die Gottgleichen, dass auch ihre Zeit endlich ist und sie ihre Allerwertesten bitte schön noch einmal hochbringen sollten, um der Welt zu zeigen, wie echter Rock zu klingen hat. "Hackney Diamonds": Der Titel hat etwas Edles, ist aber ein Slang-Terminus für gesplittertes Glas nach einem Raubüberfall. In Wirklichkeit heißt es "Dalston Diamonds" – Dalston nach einem Viertel von Hackney, einem Stadtteil Londons, wo die Geschichte der Rolling Stones ihren Lauf nahm. So liegt in der Schatztruhe mit zwölf Edelsteinen (insgesamt entstanden sogar 25 Songs), in die unsere Zeitung vorab einen Blick werfen durfte, "Angry" an oberster Stelle. Ein schmutziger, dröhnender Take mit einem simplen, aber massiv auf die Eingeweide zielenden Riff von Keith, wobei Mick nicht etwa den zornigen alten Mann gibt, sondern eher um Gnade winselt: "Warum bist du wütend auf mich?" Etwa weil er ihr zu alt geworden ist?
In "Get Close" merkt man davon nichts. Eine flotter Shuffle-Rhythmus bietet den Gitarren eine nahezu perfekte Startrampe zurück in die Zukunft, bis sie in der Luft auf ein schwereloses Saxofon treffen. Achtung: Am Piano sitzt ein gewisser Elton John. Balladen gibt es selbstredend, erstaunlich schöne sogar, wobei "Depending on You" das Zeug zum klassischen Stones-Ohrwurm hat und das wunderbare "Dreamy Skies" auf eine besondere Weise die Stimmung der sagenumwobenen "Exile On Main Street"-Session reanimiert. Der einzige etwas schwächere Titel ist "Driving Me Too Hard", der sich nicht entscheiden kann, ob er nun losmarschieren oder weiter im Schieber-Status verweilen soll.
Zwei Mal ist auch Charlie Watts noch zu hören
Aber der Rest: Allerbeste Stones-Ware, bisweilen sogar gefüttert mit kleinen oder größeren Überraschungen. Auf "Bite My Head Off" wirkt die Rasselbande aus dem Altersheim wie eine Punkband: laut, hektisch, schnell. Am Bass wühlt mit dem 81-jährigen Paul McCartney ein anderer Großer mit, der das uralte Vorurteil ausradiert, die Rolling Stones und die Beatles hätten eine tiefe Todfeindschaft gepflegt. Noch einen Tick rotziger, rockiger ist "Whole Wide World". "Und du denkst, die Party ist vorbei. Dabei geht es gerade erst los!" – das ewige Motto der Stones also. Jedes Stück für sich ist ein Geschenk an die mit ihnen jung gebliebenen Fans und die Jungen, die sich gerade wundern dürften, warum Opas so grandios Musik, Party, Stimmung und – ja, auch Kunst machen können.
Wir erleben ebenfalls noch zwei Mal den seligen Charlie Watts an der Schießbude; im an die 1980 erinnernde Dancefloor-Schwarte "Mess It Up", das wie eine verspätete Korrektur nebst Entschuldigung für das aus heutiger Sicht unglaublich peinliche "Miss You" wirkt, und in "Live by the Sword", dessen rebellischer Geist von keinem Geringeren als Ur-Bassist Bill Wymann (und abermals Elton John) authentische Nahrung erhält. Bis auf den verstorbenen Brian Jones gibt es tatsächlich noch einmal die Originalbesetzung – was für ein Ereignis! Man erkennt Charlie sofort an seinem charakteristischen Beat über die Snare. Den Rest trommelt Steve Jordan; verlässlich und inzwischen fast so stoisch exakt wie sein Vorgänger und Mentor.
Das Finale ist großes Kino, ein Schwenk zurück zum Blues und seinem Seitenarm Gospel. Sieben Minuten lang darf Jagger in "Sweet Sounds of Heaven" noch einmal allen vor Ohren führen, zu welchem stimmlichen Naturereignis er sich selbst mit 80 noch aufschwingen kann. Das Opus Magnum des Albums, das Erinnerungen an "Sweet Virginia" weckt, mit Lady Gaga als fulminanter zweiter Gesangsstimme und Stevie Wonder am Piano. Überwältigend. Wie das kleine, leise Finale. Es trägt den alles auf den Punkt bringenden Titel "Rolling Stones Blues", ein Klassiker aus der Feder von Muddy Waters. Nur die beiden "Glimmer Twins" Mick und Keith, rau, hart, dreckig. Jagger spielt die Harp, Richard klampft sich auf der Elektrischen durch die Takte. Es endet, wie alles anfing, damals in Hackney. Das beste Album der Rolling Stones seit "Sticky Fingers". Respekt, wer es schafft, auf diese Weise alt zu werden!