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Gesellschaft
Sind wir denn alle (Linde)Männer? Ein Orientierungsversuch
Die Diskussion zu den Vorwürfen sexueller Nötigung rund um den Rammstein-Sänger folgt einem bekannten Muster, Generalverdacht gegen Männer, Schweinesteak-Esser usw. inklusive.
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Foto: Sven Hoppe, dpa | Aktivistinnen demonstrieren vor Beginn des Konzertes der Band Rammstein vor dem Stadion in München.
Christian Imminger
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:21 Uhr

Vorweg ein vielleicht ungewöhnliches Bekenntnis: Der Autor, also ich (und lassen wir doch in der Folge die vornehme, halbwegs Distanz vorgaukelnde Form einfach weg), tut sich schwer mit dem Thema. Ein Kollege sagte gar und in diesem Fall in der Tat wenig vornehm: „Da kannste nur in die Scheiße treten.“

Und gerade deshalb, weil so eine Aussage fast schon symptomatisch ist für die gegenwärtige Debattenkultur: Was da in den letzten Wochen zumindest in Medien- und Twitter-Deutschland passiert, bedarf vielleicht gerade deshalb einer Kommentierung, was, wie gesagt, irgendwie schwerfällt, und was nur heißt: Es könnte sich dergestalt also um ganz subjektive Eindrücke, Schlussfolgerungen und Äußerungen handeln. Um eine Kommentierung eben, Notizen vom Rande. 

Ich kann jedenfalls weder allgemein für Männer oder (und das noch viel weniger) für Frauen sprechen, wie sich solch Pauschalierungen ohnehin verbieten. Aber diese Pauschalisierungen sind derzeit mal wieder allenthalben am Start, vielleicht geht das auch gar nicht anders, vielleicht sollte man sich aber dennoch umso mehr anstrengen, ein wenig mehr zu differenzieren. 

Weibliche Fans, passend ins "Beuteschema" des Sängers

Ganz undifferenziert und in aller gebotener Kürze hier aber nochmals zusammengefasst, was die gegenwärtige Aufregung ausgelöst hat: Dem Sänger der Band Rammstein wird von mittlerweile über einem Dutzend Frauen vorgeworfen, sie auf die eine oder andere Art ausgenutzt, missbraucht, gar sexuell genötigt zu haben. Vom Einsatz von K.-o.-Tropfen ist die Rede, vom gezielten Casting– vielleicht besser – Herausgreifen vor und während Konzerten potenziell ins „Beuteschema“ von Till Lindemann passenden weiblichen Fans ist die Rede. Die StaatsanwaltschaftBerlin ermittelt, Anklage ist noch keine erhoben, die Beweisaufnahme dauert an. Soweit also das, was man sagen kann.

Gesagt wird aber dennoch viel mehr, gesagt werden muss aber erst einmal: Es gilt die Unschuldsvermutung. Und das zuvorderst für die Frauen, die sich zu Wort melden, denn es ist mittlerweile ein stereotypes Muster, dass gerade diesen gegenüber aus welchen Ecken auch immer mindestens ein „Selber schuld“, wenn nicht gar andere Motive unterstellt werden. Man nennt das in Twitter-Deutsch „Victim Blaming“, was allerdings – und damit komme ich zum zweiten Punkt – insofern ein problematischer Begriff ist, weil die zitierte Unschuldsvermutung eben nicht nur für mutmaßliche Opfer, sondern auch für den mutmaßlichen Täter gilt. Beides scheint, schaut man sich die Berichterstattung und das Gewese auf den sogenannten sozialen Medien der letzten Tage an, etwas in Vergessenheit geraten zu sein. 

Im einen oder anderen Bericht wird diese Unschuldsvermutung zwar noch in einem mehr oder minder pflichtschuldigen, verschämten Halbsatz erwähnt, ansonsten geht es aber rauf und runter und erweckt teilweise den Eindruck, als würde über Tatsachen und nicht etwa Verdachtsfälle berichtet. Und völlig losgelöst sind mit Verlaub Schlagzeilen, ob man nun noch Rammstein-Fan sein könne. Echt jetzt? Davon abgesehen, dass man, wie gesagt, erst einmal abwarten muss, was sich in diesem Fall als justiziabel erweisen wird und was nicht, ist es schlicht die aufgeregt falsch gestellte Frage. Allein aus dem Grund, weil man sie vielleicht auch genauso gut schon vor der Öffentlichkeitswerdung der Vorwürfe hätte stellen können.

So sind sie, die Germans!

Denn nix gegen die Kunstfreiheit, gell, aber eine Band, die mit profaschistoiden Symboliken und vermeintlich tabubrechenden Texten nebst viel pyromanischem Firlefanz gerade deshalb (the Germans!) auch im Ausland riesige Erfolge feiert, kann man durchaus auch ohne die nun im Bühnenraum stehenden Anwürfe hinterfragen. Nur mal so. 

Stattdessen wird jetzt in fast allen Berichten zum Thema die „Spermakanone“ gezeigt (die freilich bei den letzten Konzerten wie in München nicht mehr zum Einsatz kam) als Beleg für die sexualisierte Aufladung von wenn schon nicht Rammstein, so doch deren dieses Requisit mehr oder minder lustvoll bedienenden Frontmanns Till Lindemann. Aber unabhängig davon, dass solch ein Pappmaschee-Penis eher postpubertär-peinlich ist denn irgendwie provokativ-anstößig, hätte man sich allerdings durchaus auch schon früher überlegen können, ob, wenn einer „Ich will ficken“ singt, das nicht auch genau so meint. 

Wie immer geht es gleich ums große Ganze

Soweit so ungut, und über Geschmacksfragen lässt sich – siehe die hunderttausenden auch weiblichen Fans der Band – ja auch gar nicht streiten. Es überrascht nur die Überraschung, aber vielleicht folgt diese nur der üblichen medialen Dramaturgie. Jetzt wird jedenfalls wieder aufgeregt diskutiert (wie nach den entsprechenden Vorfällen um Harvey Weinstein in Hollywood, irgendwelche Opernhauschefs, Chefredakteure, Schauspielsternchen wie Til Schweiger), und es geht wie immer gleich ums große Ganze, die Systemfrage. 

Es geht also um Machtstrukturen und Männer, das patriarchale, wenn nicht kapitalistische System, und natürlich darf dabei der mittlerweile etablierte Begriff der „toxischen Männlichkeit“ nicht fehlen. Und potenziell giftig, das sind nach der ursprünglichen Lesart Männer nicht nur für Frauen, sondern vor allem auch gegenüber sich selbst. Geringere Lebenserwartung (zu viel Schweinenackensteaks und Alkohol), am häufigsten Opfer von Gewalttaten (weil sie sich selber kloppen), oftmals depressiv (vielleicht, weil auch aus oben genannten Punkten nicht mit sich selber klarkommend). Und da mag einiges dran sein, und diese Autoaggression schlägt nicht selten in Aggression und Allmachtsfantasien gegenüber dem anderen Geschlecht um (alle 45 Minuten wird eine Frau Opfer von Gewalt in Beziehungen, so eine jüngst erschienene Studie). 

All das ist hinlänglich bekannt, vielleicht ja aber noch nicht hinlänglich genug, und dennoch: Wenn an Fällen wie dem um Lindemann solche Themen hochgezogen werden, geht das naturgemäß an den zugrunde liegenden, alltäglichen Strukturen vorbei. Man könnte sagen, Promi-Faktor und der mediale Hang zur Personalisierung schlägt die soziologische Analyse. Und, eventuell noch weitaus wichtiger: verhindert auch die Veränderungsbereitschaft. 

"Männer, seid ihr wirklich noch nicht weiter?"

Denn wenn etwa bei „Hart aber fair“ in derARD allen Ernstes getitelt wird: „Der Fall Rammstein und die Frage: Männer, seid ihr wirklich noch nicht weiter?“, so kann zumindest ich einen spontanen Abwehrreflex nicht verhehlen. Zum einen schon gegen die Ikea-hafte Anrede, zum anderen aber natürlich auch gegen den Generalverdacht, der da und in der äußerst wirren, alles mit allem vermengenden Sendung (was hat zum Beispiel der Gender-Pay-Gap mit einem peinlichen Sänger zu tun?) ausgesprochen wird. Männer? Potenzielle Triebtäter, Fleisch grillende Umweltsäue, Unternehmensberater. 

Dennoch will ich die Frage aufgreifen, und: Keine Ahnung, wie weit wir Männer sind. Der eine mehr, der andere weniger. Wie bereits erwähnt, solcherart Pauschalisierung hilft nicht viel weiter. Eine Kollegin fragte mich, ob eben wir Männer nicht auch über dieses Thema diskutieren würden, und tatsächlich musste ich nachdenken. Und ja, wir reden nicht nur über den neuesten Weber-Grill und die Bundesliga-Ergebnisse, aber nein: Wir, also ich, können uns nicht vorstellen, wie es ist, als Frau nachts allein nach Hause zu gehen. Insofern sollten sich vielleicht mehr Männer ernsthaft mit Frauen unterhalten und umgekehrt, statt Metadebatten übereinander zu führen. 

Das Leben wird nie ein sicherer Ort sein

Doch eines muss bei all dem und gerade angesichts des aktuell verhandelten Falls klar sein: Bei allen gesellschaftlichen Fortschritten (und man sollte nicht so tun, als ob es die nicht gäbe): Das Leben wird nie ein Safe Space sein, der Besuch des einen oder anderen Konzerts, Clubs oder was auch immer schon gar nicht und war es nie. Das rechtfertigt natürlich keine Übergriffe, keine K.-o.-Tropfen (und ich weiß, wovon ich spreche, weil wohl fälschlicherweise selbst mal welche abbekommen), aber wer ist nicht schon mal nach einer langen Nacht mit ordentlich Schädel aufgewacht, hat sich an selbigen gefasst und gedacht: Oh, das war aber, glaub ich, peinlich? 

Nochmals: Es gibt nichts zu verharmlosen. Aber all die nun aufploppenden Vorschläge, After-Show-Party-Verbote, Awareness-Teams und so weiter werden kaum etwas ändern. Denn was sich mal als emanzipatorische Bewegung gegen den pietistischen Mief formiert hat, und das übrigens nicht erst seit dem Rock ’n’ Roll, sondern mindestens vor hundert Jahren, dieses subkulturell selbst erkämpfte Recht auf Rausch, Libertinage und Ekstase (und meinethalben auch ein Schweinenackensteak), all das, was mittlerweile unter Verdacht zu stehen scheint, wird sich spätestens dann, wenn sich offizielle Veranstaltungen anfühlen wie die Konfirmanden-Disco bei Hagebuttentee, neue Nischen suchen. Die Männer und Frauen gleichermaßen anziehen. 

 
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