Die jüdischen Grabsteine von Siret (Rumänien) beklagen die Toten in drei Sprachen. Unterhalb der jiddischen und hebräischen Inschriften finden sich oft die deutschsprachigen Worte „gestorben in Transnistrien“. Am Donnerstag, 23. Mai, wird in der Nähe ein historischer Gedenkort eingeweiht, der sich erstmals einem weit verbreiteten Tabu stellt: dem Holocaust in Rumänien durch massenhafte Erschießungen und den Massendeportationen von 1941 nach Transnistrien. Diese Opfer sind auch in Deutschland weitgehend vergessen.
Siret ist heute Transitstadt zwischen Czernowitz in der Westukraine und Suceava in Nordrumänien. Der Verkehr zum nahen Grenzübergang fließt ununterbrochen durch die Stadt. Biegt man von der zentralen Kreuzung in die Straße des 9. Mai, gelangt man nach wenigen Schritten zum Stadtmuseum, das ebenfalls am 23. Mai mit neuem Konzept wiedereröffnet wird. Es ist nach drei Seiten von einer hohen Ziegelmauer umgeben, in die goldfarbene Steine eingelassen sind. Sie tragen über 53.000 Namen jener jüdischen Deportierten, die auf Anordnung des rumänischen Diktators Ion Antonescu seit dem 9. Oktober 1941 nach Transnistrien verschleppt wurden und dort umkamen.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg begann eine "Rumänisierung"
Schon der rumänische Nationalstaat von 1918, ein Gewinner des Ersten Weltkriegs, hatte eine Politik der ethnischen Rumänisierung betrieben. Juden wurden aus öffentlichen Ämtern entfernt. Die Verantwortung für den späteren Genozid in Transnistrien liegt aber bei Rumänen und bei Deutschen. Die Ausgrenzung der Juden erreichte erst eine neue Dimension, als Rumänien 1939 ein Wirtschaftsabkommen und später eine Militärallianz mit NS-Deutschland schloss. Rumänisches Mineralöl war kriegswichtig. Juden verdrängte man noch systematischer aus Wirtschaft, Verwaltung und die Kinder aus den Schulen.
Bei einem grauenhaften Pogrom starben 14.000 jüdische Bewohner in Iassy
Als Rumänien die Nordbukowina an die Sowjetunion verlor, galten nicht die alliierten Deutschen, sondern die Juden als die Schuldigen. 1940 wurde ein Rassengesetz nach deutschem Vorbild verabschiedet. 1941 fand eine Sonderzählung statt, um Juden zur Zwangsarbeit und zu Sonderabgaben heranzuziehen. Wenig später starben über 14.000 jüdische Bewohner im siebenbürgischen Iassy bei einem grauenhaften Pogrom durch die Hand von Rumänen, an dem sich auch deutsche Wehrmachtssoldaten beteiligten.
Die Gedenkstätte und die Neukonzeption des Museums verdankt sich dem beharrlichen Engagement von Emil Ursu, dem Leiter des staatlichen Nationalmuseums der Bukowina in Suceava, der in der Region schon vieles bewegt hat. Von der Blüte Sirets im Mittelalter als Hauptstadt der moldauischen Fürstentümer schlägt er in der neuen Dauerausstellung den Bogen bis in das 20. Jahrhundert. Ein zentrales Exponat für die Erinnerung an die Deportationen ist ein Zugwaggon. Im Inneren ist eine interaktive Karte mit den Lagern in Transnistrien zu sehen. In Interviews kommen bukowinische Juden zu Wort, die die Deportationen überlebt haben. Auch nach dem Krieg hatten jüdische Familien Schwierigkeiten, wieder Fuß zu fassen.
Ein Bewusstsein für die historische Schuld setzt erst allmählich ein
Im kommunistischen Rumänien wurden die Verbrechen in Transnistrien verschwiegen. Viele Juden wanderten nach Israel, Amerika oder Deutschland aus, auch hiervon erzählen Zeitzeugen. Dass die Besucher dafür in den Keller hinabsteigen müssen, hat symbolische Gründe: „Rumänien kehrt dies unter den Teppich, deshalb haben wir es in den Keller gebracht. Rumänien ist noch nicht bereit, darüber zu sprechen“, erklärte Ursu in einem Beitrag für den Monitorul Suceava vom 23. Februar. Noch 2009 überwog nach Umfragen bei 66 Prozent der Bevölkerung die Überzeugung, für den Holocaust seien allein Deutsche verantwortlich. Ein Bewusstsein für die gemeinsame historische Schuld und Verantwortung von Deutschen und Rumänen setzt erst allmählich ein und stößt weiter auf Widerstände.
Die Stadt Siret und Ursu gewannen für die Finanzierung des Projekts neben der rumänischen Regierung auch den Europäischen Regionalfonds. Aufbauend auf seinen oft unterschätzten Möglichkeiten für die entlegenen Regionen in der Europäischen Union ist so weitab von der Hauptstadt Rumäniens ein einzigartiger Ort des Erinnerns und Gedenkens entstanden. Für überregionale Sichtbarkeit sorgt nicht zuletzt die europäische Regionalpartnerschaft, die die ukrainische Nordbukowina (Region Czernowitz), die rumänische Südbukowina (Kreis Suceava) sowie die französische Region Mayenne und den Bezirk Schwaben miteinander verbindet. Als Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung werden für Schwaben bei der heutigen Eröffnung der Bezirkstagspräsident Martin Sailer, der Bezirksrat Stefan Bosse und Dr. Katharina Haberkorn für das Europabüro zugegen sein. Auch aus dem nahen Czernowitz kommen Gäste.
Siret stellt sich unter seinem jungen Bürgermeister Adrian Popoiu mit der neuen Museumskonzeption und dem Gedenkort der eigenen jüdischen Geschichte, die hier bisher nur vereinzelt Erwähnung fand. Sie geht bis auf das 16. Jahrhundert zurück. Um 1840 prägten ultraorthodoxe Chassidim das Bild der Stadt. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wählte Siret einen jüdischen Bürgermeister. In den folgenden Jahrzehnten sahen sich auch die Sireter Juden der Ausgrenzung, Diskriminierung und Vernichtungspolitik ausgesetzt. Heute leben hier keine Juden mehr. Von der ehemals reichen jüdischen Vergangenheit zeugt nur noch der jüdische Friedhof am Ende der Straße – der zweitgrößte in Südosteuropa. Seine Steine sprechen in ihren verschiedenen Sprachen zu uns.
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Prof. Jana Osterkamp ist Historikerin an der Universität Augsburg und lehrt die Verflechtungsgeschichte Deutschlands mit dem östlichen Europa. Gleichzeitig ist sie Leiterin des Bukowina-Instituts in Augsburg.