Wie tief der Antisemitismus immer noch in der deutschen Gesellschaft verankert ist, diese Frage ist seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und den daraus resultierende Solidaritätsbekundungen für die Anliegen der Palästinenser Gegenstand einer lebhaften Debatte. Da kam ein Vorgang in Sachsen-Anhalt, der in den vergangenen Tagen die Gemüter erregte, zur Unzeit. Eine Kindertagesstätte in Tangerhütte, in den 1970er-Jahren nach Anne Frank benannt, wolle ihren Namen ablegen, hatte die Magdeburger Volksstimme berichtet.
Statt nach Anne Frank soll die Kita in Tangerhütte "Weltentdecker" heißen
Verschwinden sollte der Name jenes jüdischen Mädchens, das von den Nationalsozialisten verfolgt und getötet wurde und über die Zeit im Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus ein weltberühmtes Tagebuch geschrieben hatte. Dafür sollte die Kita fortan "Weltentdecker" heißen, hatte das Kuratorium der Einrichtung bekannt gegeben. Begründet wurde die Umbenennung unter anderen vom Bürgermeister der Stadt, dem Parteilosen Andreas Brohm, mit einem veränderten pädagogischen Konzept, dem der neue Name besser Rechnung trage. "Weit vor den aktuellen Diskussionen und Ereignissen ist bereits Anfang 2023 auch die Diskussion aufgekommen, diese grundlegende Konzeptionsänderung durch einen anderen Namen der Einrichtung auch nach außen hin sichtbar zu machen, um diesen fundamentalen Neuanfang sichtbar zu markieren."
Nach Angaben der Kita-Leiterin sei der Name außerdem kindgerechter, weil die Person Anne Frank gerade für kleinere Kinder "schwer fassbar" sei und auch Eltern mit Migrationshintergrund damit wenig in Verbindung bringen. "Wir wollten etwas ohne politische Hintergründe", fasste die Kita-Leiterin zusammen, wohl völlig ohne Bewusstsein dafür, dass gerade die Entscheidung, den Namen Anne Frank nicht mehr tragen zu wollen, eine höchst politische ist und von vielen Menschen als Affront gegen die Erinnerungskultur verstanden wird. Fatal das Vorhaben, ausgerechnet den Namen jenes Mädchens, das eines der berühmtesten Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurde, zu streichen wie die von Nazigrößen, die man des Gedenkens nicht mehr für würdig befindet. Das Internationale Auschwitz Komitee kritisierte in einem offenen Brief die Umbenennung: "Wenn man die eigene Geschichte gerade in diesen Zeiten von neuem Antisemitismus und Rechtsextremismus so leichtfertig abzuräumen bereit ist und der Name von Anne Frank im öffentlichen Raum als ungeeignet wahrgenommen wird, kann einem im Blick auf die Erinnerungskultur in unserem Lande nur angst und bange werden", schrieb dessen Vizepräsident Christoph Heubner.
Der Stadtrat von Tangerhütte ist gegen die Umbenennung der Kita
Den Proteststurm zeigte jetzt bei Bürgermeister und Stadtrat in Tangerhütte offenbar Wirkung. Am Montag hatte zuerst Bürgermeister Bohm erklärt, dass die Umbenennung der Anne-Frank-Kita bis auf Weiteres vertagt werde, die Diskussion bislang nicht beendet sei. Entschlossener zeigte sich laut einem Bericht der Welt daraufhin der Stadtrat. Der fordert den Bürgermeister in einer Stellungnahme nun dazu auf, der Umbenennung eine klare Absage zu erteilen und will sich in seiner kommenden Sitzung am Mittwoch entsprechend positionieren.
Im Übrigen: Im Insel-Verlag erscheint seit mehreren Jahren die so beliebte wie verdienstvolle Bilderbuchreihe "Little People Big Dreams", die Kindern ab vier Jahren Persönlichkeiten aus Geschichte und Zeitgeschichte nahebringt. Neben Nobelpreisträgerin Marie Curie, Gorilla-Retterin Jane Goodall, Pop-Ikone John Lennon und Fußballstar Pele gibt es auch ein Büchlein über Anne Frank, das kleinen Kindern sehr sensibel die Lebensgeschichte des jüdischen Mädchens erzählt, das sich mit seinem Tagebuch in die Welt(literatur)geschichte einschrieb und sichtbar macht, welche Folgen Ausgrenzung und Hass haben. Vielleicht wäre es empfehlenswert, dieses Bilderbuch nicht nur ins Bücherregal der Anne-Frank-Kita aufzunehmen, sondern es auch den Pädagogen und Eltern in die Hand zu drücken, damit Anne Frank wieder ein wenig "fassbarer" wird.