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Gastbeitrag
Das Radio will sich dem Kulturauftrag verweigern
Zur Krise der Kultur im öffentlich-rechtlichen Radio: Einst hatte Deutschland die anspruchsvollste Radiolandschaft der Welt. Das soll jetzt geopfert werden. Warum eigentlich?
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Foto: Sven Hoppe, dpa | Wie "niedrigschwellig" muss das Kulturprogramm im öffentlich-rechtlichen Radio sein? Darüber wird gerade intensiv debattiert.
Thomas von Steinaecker
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:26 Uhr

Ein Gespenst geht um in den Radiosendern Deutschlands. Es heißt: der Hörer. Er ist der vorgebliche Grund, warum in den letzten Jahren in allen neun Sendern der ARD grundsätzliche Reformen angestoßen wurden, die sich momentan in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung befinden. Aktuell sorgt die Ankündigung des Bayerischen Rundfunks einer "echten Kulturoffensive" im Radioprogramm Bayern 2 für Aufregung, hinter der viele das genaue Gegenteil, nämlich einen "Kahlschlag" befürchten. 

Keine unbegründete Sorge, betrachtet man die lange Liste von Sendungen, die ersatzlos gestrichen werden sollen: von "Diwan, das Büchermagazin" bis hin zum "Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay". Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird. Im Jargon des BR-Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es dann, man wolle "noch mehr Hörerinnen und Hörer" gewinnen. Wie aber nur erreicht man den Hörer? Wie begeistert man ihn für mehr Kultur im Radio? Was will er? Ja, wer ist er überhaupt? Nur so viel scheint für Intendanten und Direktoren klar: Man muss ihm mehr entgegenkommen. Der zauberwortartige Begriff, der dann regelmäßig in diesem Zusammenhang in Programmplanungen fällt, lautet "niedrigschwellig". Woher jedoch rührt eigentlich dieses auffallende Unbehagen an der Kultur?

Das Motto lautete "Zumutung höchster Ansprüche"

Wirft man einen Blick zurück, auf die 1950er Jahre, auf die Anfangszeit des heutigen Radios, das damals, in einer Epoche ohne Fernsehen, noch Leitmedium war, stellt sich rasch ein Eindruck ein, für den der Begriff "elitär" noch fast zu schwach erscheint. Der exzentrische Arno Schmidt zeigte sich in Stundensendungen begeistert von obskuren Barockdichtern und in "Radio-Essays" baten die damaligen Redakteure, die Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel hießen, Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll in "Sprachlaboratorien" über "geistige Probleme" nachzudenken. 

Das "Abendstudio" des Hessischen Rundfunks hatte das stolze Motto "Zumutung höchster Ansprüche". Empörte Hörerreaktionen waren keine Seltenheit. So etwa nach der Ursendung eines der wichtigsten und immer noch schönsten Hörspiele der Geschichte, Günter Eichs "Träume", das auf eine damals, 1951, unerhört experimentelle Weise akustisch surreale Welten entstehen ließ. Man solle doch diesen Eich bitte einsperren, so ein Hörer. Die Redaktionen hielten trotz dieser prädigitalen Shitstorms an ihren Künstlern fest, ja, fast hat man den Eindruck, man verstand diese Empörung sogar als eine Art Gütesiegel. 

Die Kultur war ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Radiolandschaft hierzulande in den 1950er Jahren nicht nur die kulturell anspruchsvollste und vielfältigste in Europa, sondern auf der Welt war. Das erklärt sich vor allem aus der historisch einmaligen Situation. Nach dem Krieg und der behaupteten Stunde null beschloss die westliche Welt, die besiegte Nation einer kompletten geistigen Erneuerung zu unterziehen. Alle sozialen Schichten sollten erreicht und die Ideologien des Dritten Reichs aus den Köpfen vertrieben werden. Die Siegermächte investierten bald Unsummen in das, was sie "Reeducation" nannten. War doch klar: Es ging um nichts weniger als die Um- oder Neu-Erziehung eines ganzen Volkes, bei der der Verbreitung von Kultur eine essenzielle Rolle zufiel. Ja, Kultur, auch und insbesondere solche, die Widerstände hervorrief, das war nach den Jahren der totalitären Ideologie und dem damit verbundenen Populismus ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie. Dabei handelte es sich letztlich um eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung mit ihren Idealen und Methoden. 

Natürlich wäre es naiv, diesem Programm Uneigennützigkeit zu unterstellen. Zur Wahrheit gehört auch, dass das alles eine ziemlich misogyne Männerwirtschaft war, die sich nicht selten durch Selbstgefälligkeit und Klüngelei auszeichnete. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war man ohnehin noch entfernt. Trotzdem: Dieser unschöne Begleitakkord kann nicht den Kern dessen verdecken, was Kultur in der Gründungszeit der Bundesrepublik ausmachte und sich aus heutiger Sicht mit Begriffen belegen ließe, die aktuell bei Programmmachern mindestens ein Stirnrunzeln und Augenrollen hervorrufen würden, darunter die Nummer eins auf der Shitlist des Uncoolen: "intellektuell". 

Es wird an dem gerüttelt, was die Einzigartigkeit der Radiolandschaft ausgemacht hat

Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten "Regal" bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Wir wollen überwältigt werden. Ich habe da ganz viel gespürt! Und was macht das jetzt mit dir? Wir, die wir mit unseren Rundfunkbeiträgen die Programme ermöglichen, sollen doch bitte selbst bestimmen, was wir hören wollen. 

Im aktuellen Positionspapier des BR, der Antwort auf die breite öffentliche Kritik an der geplanten Reform des Kulturprogramms Bayern 2, heißt es, es seien neue Formate geplant, traditionelle Literaturkritiken würden ersetzt durch Sendungen, in denen Hörer ihre Lieblingsbücher empfehlen – ein ziemlich altes Format, nebenbei bemerkt, das seit Jahren im "Tagesgespräch" auf Bayern 2 vor den Sommerferien und vor Weihnachten gepflegt wird. Und was mag der Hörer so? Oder besser: der Hörer aus der Gruppe der legendenumwobenen und von allen Seiten umworbenen Millennials, die wohlgemerkt letztlich gegenüber den Boomern den weitaus geringeren Teil der Hörer ausmachen? "Zumutung höchster Ansprüche"? Nein, gerade diesem Hörer einer jüngeren Generation darf offenbar nur wenig zugemutet werden. Er scheint nicht sonderlich intelligent, gebildet oder sonst irgendetwas zu sein, eigentlich sogar ziemlich faul, schwer von Begriff, ja, höhlenmenschartig, vor allem interessiert an Essen, Schlafen und Sex. Er hat Angst vor Ansprüchen. Eventuell existiert er gar nicht. 

Eine Verweigerung der Programmverantwortlichen am Kulturauftrag

Aber vielleicht existiert er ja doch in naher Zukunft. Jedes Medium produziert seine Rezipienten. Die Kulturprogramme des Radios sind dabei, genau jenen Hörer Wirklichkeit werden zu lassen, der als selbst erschaffener Geist nun seit Jahren durch ihre Köpfe spukt. Dahinter offenbart sich eine paradoxe Unlust der Programmverantwortlichen am Radiomachen und eine Verweigerung gegenüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt und der eine Finanzierung durch Gebühren rechtfertigt, in Abgrenzung zu den durch Werbeeinnahmen finanzierten privaten Sendern. 

Am Kipppunkt in der Entwicklung eines immer noch maßgeblichen Mediums kann es aber durchaus sinnvoll sein, auf seine Geschichte zu blicken. Es geht hier nicht nur um die mutwillig herbeigeführte Zerstörung des kulturellen Erbes dieses Landes, das über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde. Ohne Not wird Abschied genommen von der Idee, dass Komplexes, Herausforderndes, Nicht-sofort-Verständliches, Intellektuelles, ja, Abseitiges notwendig für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft ist – und dass ein Land, in dem dafür kaum noch Platz ist, auf jenen Punkt einer populistischen Katastrophe zusteuert, aus deren Trümmern das öffentlich-rechtliche Radio als Medium der Demokratisierung in den 1950ern seinen Ausgang nahm. Es fehlt nicht mehr viel. Und was macht das mit dir?

Zur Person: Thomas von Steinaecker, 1977 in Traunstein geboren, ist Schriftsteller, Regisseur, Hörspielautor, Comicszenarist und Journalist. Er lebt und arbeitet in Augsburg, 2023 ist sein neuer Roman "Die Privilegierten" im S. Fischer Verlag erschienen.

 
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