Zunächst sah es nach Routine aus: Die Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, der Oberbürgermeister von Frankfurt, Mike Josef, die Präsidentin des diesjährigen Gastlandes Slowenien, Natasa Pirc Musar, priesen die Kraft der Literatur und bekundeten im aktuellen Nahost-Konflikt ihre uneingeschränkte Solidarität mit Israel. Und dann betrat bei der feierlichen Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am Dienstagabend der Festredner der Veranstaltung, der slowenische Philosoph Slavoj Zizek das Podium und nichts war mehr wie sonst üblich. Es kam zum Eklat.
Zizek verurteilt in Frankfurt den Angriff der Hamas auf Israel, aber ...
Auch Zizek, bekannt als streitbarer Mann, der oft deutliche und auch provokante Worte findet, verurteilte den Angriff der Hamas auf Israel "ohne Wenn und Aber", setzte dann jedoch doch zu einer Einschränkung an: "Aber ich habe etwas Merkwürdiges festgestellt: Sobald man anfängt, den komplexen Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man verdächtigt, den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen", hielt Zizek der Festgemeinde entgegen und fuhr fort: "Ist uns klar, wie merkwürdig dieses Analyseverbot ist? In welche Gesellschaft gehört ein solches Verbot?"
Mit dem letzten Satz spielte der Philosoph auf das Motto des diesjährigen Gastlandauftritts "Waben der Worte" an, das sich auf die Bienenzucht in Slowenien bezieht. "Welcher Idiot hat dies als Leitwort ausgesucht? Wusste er nicht, wie Bienen leben? Das ist eine extrem totalitäre Gesellschaft", führte Zizek mit dem Hinweis auf das Verhältnis von Königin und ihrem Volk von Arbeiterinnen aus.
"Ich schäme mich auch ein bisschen, hier zu sein", sagte Slavoj Zizek
Noch während der Rede des slowenischen Philosophen, in der er darauf beharrte, dass es im Nahen Osten keine Lösung des Konfliktes geben könne, wenn man nicht auch die komplexen Hintergründe kenne und verstehe und den Blick auf das leidende Volk der Palästinenser werfe, kam es zu Zwischenrufen des Publikums, einige Zuschauerinnen und Zuschauer verließen den Saal. Der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker widersprach Zizek zunächst vor, dann auch auf der Bühne heftig und warf ihm vor, die Verbrechen der Hamas zu relativieren. Sichtlich erregt ("Tut mir leid, wenn ich jetzt explodiere") wies Zizek, der immer wieder auch Beifall aus dem Publikum erhielt, dies von sich.
Terrorismus gegen Israel widerspreche allen Werten der Buchmesse, ebenso aber die Bestrafung von Millionen Menschen im Gazastreifen. Und auch die Absage der Preisverleihung an die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli, die am Freitag den LiBeraturpreis für ihr Buch "Eine Nebensache" erhalten sollte, wertete Zizek in diesem Zusammenhang als skandalös. Diese Cancel-Kultur führe dazu, dass diejenigen, die nicht ins Bild passen, ausgeschlossen werden. "Ich bin also nicht nur stolz, hier zu sein, ich schäme mich auch ein bisschen, hier zu sein", sagte er.
Meron Mendel äußert sich zu Zizeks Forderung nach einer Analyse
Unter dem Eindruck der Worte Zizeks sprach der Direktor der Buchmesse, Jürgen Boos, spontan zu den Gästen der Eröffnungsfeier und verwies auf die Freiheit des Wortes, die man stehen lassen müsse. "Ich bin froh, dass wir die Rede zu Ende gehört haben, auch wenn sie uns nicht gefallen mag. Auch wenn wir sie sogar verurteilen, es ist wichtig, dass wir uns zuhören."
Als Reaktion auf die Eröffnungsrede schob die Buchmesse tags darauf eilends eine Podiumsdiskussion mit dem Titel "In Sorge um Israel" ins Programm. Bezugnehmend auf den Begriff Analyseverbot in Zizeks Rede erklärte da Meron Mendel, Publizist und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank: "Wir brauchen Zeit und Abstand, bevor wir zur Analyse kommen." Natürlich müsse alles kontextualisiert werden, aber im Moment falle es ihm schwer, zu abstrahieren: "Ich bin sprachlos". Und: Für ein Gespräch brauche er einen Konsens, nämlich "die Anerkennung des absolut Bösen, ohne Wenn und Aber." Auch Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus sagt: "Wir müssen in Zukunft analysieren, damit wir die Konflikte besser verstehen und bessere Lösungen finden." Aber im Moment sei man noch zu nahe an der schrecklichen Gegenwart, "ich sehe die Gesichter noch vor mir". Für Juden in aller Welt habe sich mit dem Massaker vom 7. Oktober etwas geändert: Israel sei nun nicht mehr der sichere Hafen, den man im schlimmsten Falle ansteuern könne. "Israel ist jetzt eine Möglichkeit weniger, daher kommt diese Angst nun."
Die Frankfurter Buchmesse stößt an die Grenzen des freien Wortes
Uwe Becker, der am Dienstagabend Slavoj Zizek so vehement entgegengetreten war, hatte im Anschluss an die Eröffnungsveranstaltung der Deutschen Presse-Agentur gesagt, man könne über alles sprechen, auch über die Rechte und das Leid der Palästinenser, "aber nicht in einer Gleichsetzung und Gleichstellung zu Unrecht und zu massiver Gewalt und Terrorismus – das geht nicht". Auch das freie Wort habe dort eine Grenze, wo es in einem Kontext Dinge relativiere, verharmlose und gleichsetze, wo man sie nicht gleichsetzen könne. An diese Grenze ist die Buchmesse, die sich immer schon als Fest des freien Wortes feierte, in diesem Jahr bereits bei ihrer Eröffnung gestoßen.