
Ein siebenjähriger Junge wird in den Nachkriegswirren des Jahres 1945 von seiner Mutter allein auf einem Provinzbahnhof ausgesetzt – mit diesem provokanten Prolog begann Julia Franck ihren Roman "Die Mittagsfrau". In einem großen Erzählbogen fächerte sie das Leben einer Frau deutsch-christlich-jüdischer Herkunft auf, die in den 20er Jahren davon träumt, Medizin zu studieren und unter dem Nazi-Regime mit gefälschten Papieren in einer Zweckehe zu überleben versucht. Francks kontrovers rezipierter Roman gehört zu den wichtigsten Werken der jüngeren, deutschen Literatur. Jetzt ist er verfilmt worden und startet in den Kinos.
Mala Emde und Thomas Prenn spielen in "Die Mittagsfrau"
Glücklicherweise erfolgt die Kinoadaption hier nicht im üblichen ARD-Degeto-Format, in dem schon zu viele gute Bücher zu filmischem Einheitsbrei verkocht wurden. Die österreichische Regisseurin Barbara Albert arbeitet in ihrem Film mit sinnlicher Verdichtung die Essenz und Stärke der literarischen Vorlage klar heraus. Von der Kindheit in Bautzen reist die Handlung ins Berlin der 20er Jahre, wo Helene Würsich (Mala Emde) und ihre Schwester Martha (Liliane Amuat) bei der lebenslustigen Tante Fanny (Fabienne Elaine Hollwege) unterkommen. Während Martha in der Partyszene der Berliner Boheme versinkt, büffelt Helene auf ihre Zulassung für das Medizinstudium.
Mit dem Philosophiestudenten Karl (Thomas Prenn) beginnt für sie eine erste, große, romantische Liebe auf Augenhöhe. Als Helene schwanger wird, ist für sie dennoch klar, dass ein Kind nicht in ihr Leben passt. Die Tante greift in die Geldschublade und bezahlt die Engelmacherin. Nachdem der Geliebte bei einer Demonstration ums Leben gekommen ist, verfällt Helene in tiefe Depression und stürzt sich in ihre Arbeit als Krankenschwester. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung willigt sie in den Heiratsantrag des Offiziers Wilhelm (Max von der Groeben) ein, der ihr als sogenannte "Halbjüdin" gefälschte Papiere besorgt.
Der Film "Die Mittagsfrau" nähert sich Julia Francks literarischem Stil an
Schon die Hochzeitsnacht endet im Desaster. Wilhelm zeigt sich schockiert, dass Helene nicht jungfräulich in die Ehe gekommen ist. Als Helene ungewollt schwanger wird, entwickelt sich die Ehe für sie zum klaustrophobischen Muttergefängnis. Mit einer großen emotionalen Dichte erzählt Albert von diesem Gefangensein in einer traditionellen Mutterrolle und den patriarchalen Zwängen, die im Kontext des Nationalsozialismus übermächtig sind. Fast schon haptisch macht der Film den Kontrast spürbar zwischen Helenes Leben voller Hoffnung, Ambition und Liebe während der Weimarer Republik und ihrem Überleben in der NS-Zeit, wo sie die eigene Identität verleugnen muss. Beides führt schlüssig zur Entscheidungsszene, in der sie ihr Kind verlässt, zu dem sie nie die vermeintlich natürlichen Muttergefühle aufbauen konnte.
Albert gelingt es hervorragend, Francks literarischen Stil nüchterner Empathie ins Filmische zu übersetzen. Immer wieder arbeitet sie mit verschiedenen Bildformaten, grobkörnigen Erinnerungsbildern und beengten Settings, die sich deutlich von der konventionellen Historienfilm-Ästhetik unterscheiden. Das kraftvoll schlagende Herz des Films ist Mala Emde, die dieser – auf den ersten Blick – unscheinbaren Frauenfigur eine große Tiefe, Widersprüchlichkeit und Integrität verleiht.