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Erinnerungsprojekte
Die Opfer der Nazis bekommen Gesichter
Zwei Projekte zu Erinnerungskultur und Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus bringen neue Ergebnisse zutage.
Angela Bachmair
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:38 Uhr

Auch fast 80 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur treten immer noch neue Erkenntnisse über die Verbrechen der Nazis zutage, nicht zuletzt deswegen, weil junge Menschen in Bürgerinitiativen und in der Forschung ein ungebrochenes Interesse an dieser Vergangenheit haben und sich gegen das Vergessen engagieren. Zwei neue Projekte beleuchten ganz unterschiedliche Bereiche – einmal die Deportationen von Juden, Sinti und Roma zwischen 1938 und 1945 und zum anderen die schmutzigen Geschäfte der Anatomen zwischen 1933 und 1945.

Fotos von Deportationen

Vor über einem Jahr haben Historiker der Arolsen Archives (das ist ein internationales Forschungszentrum über NS-Opfer) mit Kollegen aus Berlin, München und Los Angeles Bürger und Bürgerinnen aufgerufen, in ihren privaten Fotoalben nachzuschauen, ob sich da Fotos von Deportationen finden. "Last seen" ist der Titel des Projekts, denn als sie deportiert wurden, wurden die Ausgegrenzten und Verfolgten von ihren Mitbürgern zum letzten Mal gesehen. Schon 1938, spätestens aber nach Kriegsbeginn und dann verschärft ab 1941 ließen die Nazis Tausende Juden und Jüdinnen sowie Sinti und Roma aus ihren Heimatorten verschleppen – vor allem in Lager und Gettos Osteuropas.

Im württembergischen Asperg mussten sich 1940 die südwestdeutschen Sinti sammeln, um von dort zwangsweise nach Polen gebracht zu werden, auch die Nördlinger Familie Reinhardt war darunter. Aus dem Münchner Lager Milbertshofen wurden im November 1941 Münchner, aber auch Augsburger Juden und Jüdinnen nach Kaunas deportiert und dort erschossen. Nicht selten wurden diese unmenschlichen Transporte fotografiert – meist von örtlichen Polizisten und Soldaten, also von den Tätern, aber auch manchmal von unbeteiligten Bürgern oder sogar von Angehörigen der Opfer.

Diese Bilddokumente wollten die Arolsen-Historiker finden, um noch mehr Wissen über die verfolgten Menschen und ihr Schicksal, aber auch über die Täter zu erhalten. Zahlreiche Menschen sind dem Aufruf gefolgt und haben Fotos eingesandt. So konnten etwa fünf von den über 100 Juden in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) identifiziert werden, die im April 1942 ins Warschauer Getto deportiert wurden. Niemand kehrte von dort zurück. Auch die Münchnerin Gertrud Cahn konnte man auf einem Foto erkennen, zusammen mit ihrem einjährigen Töchterchen Judis. Sie war das jüngste Kind unter den knapp 1000 an diesem Tag aus München verschleppten Menschen.

33 Bildserien aus 60 Orten und 230 Biografien sind bis jetzt in dem digitalen Bildatlas enthalten, den die Mitarbeiter von Arolsen Archives und seinen Partnern erstellen konnten. Für Projektleiterin Alina Bothe ist die Botschaft des Atlas klar: "Die Fotografien belegen, dass die NS-Deportationen öffentlich sichtbar stattfanden." Und weil man über Bilder einen guten Zugang zur Geschichte findet, ist der Bildatlas gerade für Jugendliche ein wertvolles Mittel, um sich mit der Nazi-Vergangenheit zu befassen. Ein interaktives Spiel soll dabei helfen. Der Bildatlas ist seit Kurzem online, man findet ihn unter https://lastseen.org.

Die beschämende Geschichte der Anatomie

Die Anatomie ist ein nützlicher Teil des Medizinstudiums, weil künftige Ärzte an den Körpern Toter lernen können. Wie alle Bereiche der Gesellschaft wurde auch diese medizinische Disziplin in der Zeit des Nationalsozialismus korrumpiert, sie überschritt ethische und wissenschaftliche Grenzen. Im Forschungsprojekt "Entgrenzte Anatomie" der Universität Tübingen hat die frühere Leiterin des Jüdischen Museums Augsburg und jetzige Tübinger Geschichts-Professorin, Benigna Schönhagen, eine beschämende Geschichte aufgearbeitet und die Ergebnisse in einer Ausstellung dargestellt – mit Kollegen und auch mit Studierenden, die die ethische Seite der Medizin kritisch hinterfragten. Auch hier wurden Bilder und Namen gefunden, wird an die Opfer erinnert.

Die Gewaltherrschaft der Nazis sei geradezu ein Glücksfall für die anatomische Forschung gewesen, sagte nicht ohne Zynismus der prominente Historiker Götz Aly bei der Ausstellungseröffnung. So wurde ein junger polnischer Zwangsarbeiter wegen eines Liebesverhältnisses zu einer deutschen Frau von der Gestapo erhängt, sein Leib ging "zur Verwendung" an die Anatomie. Die Leiche eines alkoholkranken Mannes, der in der Psychiatrie starb, wurde ebenfalls in der Tübinger Anatomie abgeliefert, weil sich seine Familie keine Beerdigung leisten konnte. Was an Leichen in Tübingen nicht gebraucht wurde, lieferte man an andere medizinische Fakultäten, gegen Bezahlung natürlich.

Traurige Berühmtheit hat in diesem Bereich August Hirt erlangt, Chef des Anatomischen Instituts der "Reichsuniversität" Straßburg. Er hatte, unterstützt vom "Ahnenerbe" der SS, in Auschwitz 86 jüdische Häftlinge "bestellt" und sie ermorden lassen, um seine anthropologische Schädelsammlung zu erweitern. In Tübingen wollte er, nachdem Straßburg befreit worden war, damit weiter forschen. Aber auch andere Anatomen und Anthropologen nutzten die inhumanen Möglichkeiten, die ihnen die SS bot, unter ihnen Robert Wetzel, der 1939 den weltberühmten, 40.000 Jahre alten "Löwenmenschen" im Lonetal ausgegraben hatte.

Die Ausstellung "Entgrenzte Anatomie" läuft mit einem breiten Vortragsprogramm bis 30. September. www.unimuseum.de

 
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