Nichts fällt vom Himmel. In der Kunst sowieso nicht. Und was als besonders revolutionär gilt, hat meistens ein veritables Vorspiel. Ein Blick auf die Zeit um 1900 wirkt deshalb wie ein erfrischender Cocktail – zumindest in München, wo der Jugendstil endlich wieder im Zentrum einer großen Schau steht. Die Sache mag etwas aus der Mode gekommen sein, es gab freilich auch bahnbrechende Ausstellungen, gerade in den 1980er und 90er Jahren wurde das Münchner Stadtmuseum geflutet, wenn geschwungene Leuchter und verrückt-elegante Möbel zu sehen waren. Damit schien alles gesagt. Und nun ist man in der Kunsthalle München doch wieder am Staunen.
Sämtliche Bereiche, die nur irgendwie künstlerisch zu durchdringen sind, werden dort im ambitionierten Doppel mit dem Stadtmuseum vorgeführt. Die Vertreter des Jugendstils hatten es auf eine umfassende Gestaltung des Alltags abgesehen. Das wird gleich zum Auftakt deutlich, wenn man die nachempfundenen Privaträume von Carl Thieme betritt, dem Mitbegründer der Allianz Versicherung. Die Villa an der Georgenstraße 7 war erst 1884 erbaut worden, doch Thieme und seine Frau Elsa träumten von einem zeitgemäßen Interieur und ließen bereits 15 Jahre später den jungen Richard Riemerschmid drauf losplanen.
Die Kunsthalle München präsentiert den Jugendstil als umfassendes Phänomen
Der ausgebildete Maler entwarf für jeden Raum eine individuelle Einrichtung. Vom Schrank bis zur Lampe mit Blütenschirm und von der Dessertgabel bis zu den Messingbeschlägen der Stühle war alles aufeinander abgestimmt. Besonders der Teppich vermittelt das einheitliche Konzept: Riemerschmid griff das Rot der Mahagonimöbel und das Blau ihrer Sitzpolster auf, und tatsächlich sind die blubbernden Kreisformen näher an den psychedelischen Mustern der 70er Jahre als an den damals beliebten Blumenbouquets. Das ist kühn und dürfte heute noch Absatz finden.
Zwischendurch wird die ornamentale Durchgestaltung allerdings auch übertrieben, wenn selbst am Bücherregal noch eine Schaumgirlande wuchert. Genauso haben manche Grundformen etwas demonstrativ Eigenwilliges. Und doch ist in den Raumfolgen sofort nachvollziehbar, wie luftig und leicht das neue Wohnen empfunden wurde. Gerade im Vergleich zur historistischen Schwerfälligkeit und dem ewigen Kopieren alter Stile. Der technische wie der wissenschaftliche Fortschritt liefen auf Hochtouren, wer wollte da noch in einem Museum leben, erstarrt vor lauter Ehrfurcht?
Der Jugendstil war eine Antwort auf die Zeit
Carl Strathmanns Medusa mit ihren blutunterlaufenen Augen und dem Haarkranz aus selbstironischen Schlangen könnte man glatt als Signet für diesen Aufbruch deuten. Das Gorgonen-Girl muss 1897 so rotzfrech gewirkt haben wie die knallrote Zunge der Rolling Stones in den frühen Siebzigern.
Man darf das nicht überstrapazieren, aber schon die Secessionen in München und Wien hatten ihren Grund. Zumal neben einer fad gewordenen Kunst auch die anderen Lebensbereiche nach Reformen riefen. Ob das nun eine gerechtere Arbeitswelt betraf, den Schutz der Natur oder eine gesunde Ernährung – unweit des Stachus wurde eines der ersten vegetarischen Restaurants betrieben.
Und wer wollte sich noch in zu enge Kleider zwängen? Die neue Lockerheit, die Gustav Klimts Gefährtin Emilie Flöge den Frauen in Wien gewährte, zeichnete sich fast früher in München ab. Ein Korsett vertrug sich schließlich nicht mit der natürlichen Bewegung, mit dem Ausdruckstanz einer Isadora Duncan schon gar nicht: Die Amerikanerin gab 1902 im gerade erst eröffneten Münchner Künstlerhaus ihr Deutschlanddebüt und brachte das Publikum um den Verstand.
Alles war am Fließen, die organischen Formen sowieso. Ob sich Künstlerinnen und Künstler nun am Floralen und überhaupt an Pflanzen orientierten oder an mysteriösen Unterwasserwelten. Es rankt und blüht, manchmal grazil bis zur schieren Zerbrechlichkeit, und auf Porzellan oder Schmuck wimmelt es vor wendigen Fischleibern, sich räkelnden Nymphen und purzelnden Seesternen.
Der Münchner Jugendstil tendiert bald zur Stilisierung
Mehr Natur ging nicht, Riemerschmid hat sie selbst in die Münchner Kammerspiele gebracht. Aus den Wandflächen der Empore wächst Blattwerk, die Rahmung der Bühne erinnert an Geäst. Dabei ist schön zu verfolgen, wie der Münchner Jugendstil im Vergleich zum eher verspielten Art nouveau der Franzosen bald zur Stilisierung tendiert.
Hermann Obrist gelingt es, diese unbeschreibliche Dynamik in einem einzigen Bild zu fassen: Ein gesticktes Alpenveilchen schlängelt sich samt seiner ausufernden Wurzeln in noblem Gelbgold über einen Wandbehang und ist besser bekannt als „Peitschenhieb“.
August Endell hat nur fünf Jahre später, um 1900, das Hof-Atelier Elvira mit unzähligen solcher Hiebe dekoriert. Während die Fassade von einer drachenartigen Welle im Stil des japanischen Holzschneiders Kanagawa dominiert wird, zieht sich im Empfangszimmer ein blattloses Strauchornament über die Decke, und man muss auch hier unwillkürlich an das Astwerk der späten Gotik denken. Freilich wollte man nicht das Alte wiederholen, aber die Natur bleibt eben die Natur, und die Interpretation war ja immerhin eine neue. Die Farben tun ein Übriges.
In Schwabing sieht man das an den verbliebenen Jugendstil-Fassaden, die vereinzelt wie bunte Stoffmuster wirken. Das alles scheint noch dezent gegen das Atelier Elvira, dessen Schauseite nicht nur durch die riesige Woge, sondern genauso mit schrillem Violett auf kraftvollem Grün ins Auge stach – das ist in der Kunsthalle fabelhaft rekonstruiert.
Doch selbst das wird noch von Fritz Erlers karminrotem „Rübezahl auf Reisen“ (1897) übertroffen. In einer Gebirgslandschaft aus Barbie-Pink und Milka-Lila muss sich der Riese von nackten Blumenmädchen und Baby-Quälgeistern ärgern lassen. Wobei Georg Carl von Reichenbachs farbsatte Vasen mit ihren vielen bunten Dekor-Smarties für die größte Überraschung sorgen. Das ist Pop(Art) pur.
„Jugendstil. Made in Munich“, bis 23. März 2025, täglich von 10 bis 20 Uhr, Katalog (272 Seiten, Deutscher Kunstverlag, Kunsthalle 29, im Handel 45 Euro)