Diese Situation kennen viele Frauen: Der Kleine ruft nach der Mutter, weil er Hilfe braucht, die Große ist in der Pubertät und einfach nur bockig, und dabei soll man dann noch seiner Arbeit nachgehen, womöglich sogar kreativ sein. Die totale Überforderung. Nie trat in den letzten zwei Jahrzehnten - als man dachte, man sei eigentlich weiter gekommen mit der Gleichberechtigung von Frauen und Männern - so offen wie während der Coronapandemie zutage, dass die Hauptlast der Familien- und Care-Arbeit immer noch vor allem bei den Frauen liegt. Ein Gefühl, das auch die in Augsburg lebende Illustratorin Lisa Frühbeis befiel und das seinen Ausdruck in ihrem Comic "Der Zeitraum" gefunden hat.
Lisa Frühbeis, 1987 in München geboren und seit ihrem Kommunikationsdesign-Studium in Augsburg lebend, bringt in die deutsche Comic-Szene eine dezidiert feministische Perspektive.
Bekannt wurde sie mit ihren Comic-Kolumnen für den Berliner Tagesspiegel, die 2020 zu ihrem ersten Buch "Busengewunder" verarbeitet wurden. Über die sexualisierte Darstellung des weiblichen Körpers in der Kunst, die Monatsblutung und unbequeme BHs machte sie sich darin unter anderem lakonisch-nüchtern ihre Gedanken. Den Max & Moritz-Preis des Erlanger Comicsalons und den Bayerischen Kunstförderpreis brachten ihr diese tabufreien und humorvollen Einlassungen über Weiblichkeit und den Blick der Gesellschaft darauf ein.
Auch ihr zweiter Comic "Der Zeitraum", 2021 erstmals im Netz veröffentlicht, taucht tief in die Lebenswelt von Frauen ein. Er handelt von einer alleinerziehenden Mutter, freiberuflich als Musikerin tätig, die mit ihren beiden Kindern im Tiny-Haus eines Freundes untergekommen ist, abgelegen von allem, auf einer Insel hoch oben auf einem Hügel. Auf den Vater von Sohn und Tochter kann sich die Frau nicht verlassen, die Großeltern stehen auch nicht zur Verfügung beziehungsweise haben ihre eigenen Erwartungen und Ansprüche an die Tochter, und das Geld ist knapp.
Da käme das Preisgeld eines Kompositionswettbewerbes gerade recht, wenn sie nur Zeit hätte, sich endlich ans Komponieren zu machen. "Mama!" schallt es ihr schnell entgegen, wenn sie sich mal an die Arbeit zurückgezogen hat. In gelben, blauen und roten Strichen und Kringeln zeichnet Frühbeis den Schwung der Kreativität. Und ganz schnell ist die Mutter wieder zurück in der Alltagsrealität, die in vielen Grau-Schattierungen und mit dicken schwarzen Strichen die beklemmende Lage wiedergibt, wenn der Dreck weggeputzt und das Mittagessen gekocht werden muss. "Emanzipation ist der Kampf um die Verfügbarkeit der eigenen Zeit", schreibt Lisa Frühbeis im Nachwort zu "Der Zeitraum". Und Kreativität ebenfalls. Frauen in künstlerischen Berufen erfahren diese Limitierung der Zeit für sich selbst also in doppelter Hinsicht.
Lisa Frühbeis stellt dies in Wort und Bild eindrücklich dar. Fast schematisch sind ihre Figuren, mit einfachen Strichen und Kreisen für Mund, Augen und Nasen. Emotionen wie Langeweile, Wut, Trotz, Verzweiflung und Hilflosigkeit spiegeln sich darin trotzdem beeindruckend wider, auch in Haltung und Körpersprache. Allem will die Protagonistin gerecht werden - den Kindern, den Eltern, dem künstlerischen Schaffen - und dabei wird sie zerrissen zwischen Pflichten, Sorgen und Ärger, zwischen eng getaktetem Zeitplan und drohender Räumungsklage.
Wie schön wäre da ein Platz ganz für sich allein, in dem der Alltag ausgeschlossen wäre, in dem man sich dem Schaffen ungehindert widmen könnte. Virginia Woolf stellte diese Forderung nach einem "Zimmer für sich allein" in ihrem berühmten gleichnamigen Essay - und verstand dies sowohl als konkreten Raum als auch im übertragenen Sinn als finanziellen, künstlerischen und emanzipatorischen Freiraum.
Lisa Frühbeis schenkt ihrer namenlosen Heldin einen solchen Raum als Imagination: Mitten in der tristen Landschaft tut sich für die Frau der Durchgang in eine bunte, leuchtende Welt voller Unbeschwertheit und Freiheit auf. Wie eine Vulva in leuchtendem Pink ist das Tor in diese Parallelwelt, durch das die Frau geht und als starkes, wehrhaftes Ungeheuer ankommt. Die Zeit steht still, hier kann sie sich frei entfalten. "Alles fällt von mir ab", nimmt das Wesen wahr.
Doch das Glück der Freiheit ist ambivalent, das Wesen selbst wird immer düsterer und brutaler. Ungebundenheit und Glück haben ihren Preis. Lässt sich das Dilemma überhaupt auflösen? Spielerisch bringt Frühbeis auf der letzten Seite Farbe in den Familien-Alltag, aber die Mutter bleibt gezeichnet. "Die Zeit wird es zeigen" heißt es in der letzten Sprechblase - und das kann man durchaus mehrdeutig verstehen.
Lisa Frühbeis: Der Zeitraum. Carlsen, 144 Seiten, 18 €.