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Frankfurt am Main
Buchmesse in Frankfurt: Mehr als nur ein Rausch der Bücher
In diesen Tagen, da die Buchmesse 75 wird, erinnert man gern an große Namen. Und heute? Kommt man weder an künstlicher Intelligenz noch am Krieg in Israel vorbei – Eklat inklusive.
430689610.jpg       -  Buchstände, die aussehen wie Festungen... Eindrücke von der 75. Frankfurter Buchmesse.
Foto: Hannes P. Albert, dpa | Buchstände, die aussehen wie Festungen... Eindrücke von der 75. Frankfurter Buchmesse.
Stefanie Wirsching
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:11 Uhr

Amir Gudarzi sitzt. Vor ihm ein Glas Wasser und eine Schale mit kleinen Salzbrezeln, hinter ihm eine Bücherwand. Er sieht ein bisschen blass aus, aber vielleicht liegt das auch am Licht oder vielleicht denkt man das auch nur, weil Amir Gudarzi gerade gesagt hat, es gehe ihm nicht sehr gut. Magen – er verdächtigt eine Currywurst. Die hat er mittags gegessen, gleich nach der Ankunft in Frankfurt, er kenne sich nicht aus mit Currywurst. Ob er die aus Schwein oder die aus Rind nehmen solle, hat er am Stand gefragt, es wurde dann die aus Rind und nun hat er sich irgendwie eben so durch diesen Nachmittag gerettet. Am liebsten hätte er sich zwischendurch hingelegt, sagt er, so elend ging es ihm.

Frankfurter Buchmesse: Großes Branchenthema ist Künstliche Intelligenz

Stattdessen Stühle, Stühle, Stühle, auf denen man sitzt, und gegenüber sitzt ein anderer oder eine andere und hat Fragen. Vier Interviews am ersten Tag, das ist eine feine Taktung, nicht nur für einen, der gerade wie Gudarzi mit "Das Ende ist nah" seinen ersten Roman vorstellt. Am Samstagabend wird er bei einer Literaturgala neben Schriftsteller Salman Rushdie, dem unbestrittenen Star dieser Tage, auf der Bühne sitzen. Abgesehen von der Currywurst-Misere – wobei, es handelt sich nur um einen Verdacht – muss man also eigentlich sagen: Für den österreichischen Autor Amir Gudarzi könnte es auf seiner ersten Frankfurter Buchmesse gerade gar nicht besser gehen. 

Für die Buchmesse kann man das so nicht sagen. Es ist ihr schon besser gegangen, aber auch schon schlechter. Wenn man beim Menschen wissen will, wie es ihm geht, misst man zum Beispiel Fieber. Beim weltweit größten Treffen der Branche zählt man Aussteller, Besucher, Bücher. Von allem gab es vor der Corona-Epidemie schon mal mehr, von allem auch schon weniger. Weil in diesem Jahr die Bücherschau zum 75. Mal stattfindet, hat man sich als Motto den Satz ausgedacht: "And the story goes on." Und die Geschichte geht weiter. Fünf Worte, die nach schöner Zukunft klingen, aber in denen auch ein bisschen die Sorge um eine ungewisse Zukunft mitschwingt, ein Verlust der Selbstverständlichkeit. And the story goes on – ja, ist denn etwas anderes vorstellbar? Das große Branchenthema in diesem Jahr jedenfalls: künstliche Intelligenz. Ist das eine künstlerische Intelligenz? Schreibt die irgendwann am Ende die Geschichten fort? Und womit wird KI eigentlich trainiert, wenn nicht mit Millionen von doch eigentlich urheberrechtlich geschützten Büchern? Das sind die Fragen. 

Die erste Buchmesse, ein erster Bücherrausch: 205 Verlage, 9046 Besucher

Aber zurück zu den Zahlen: 205, 9046. So begann diese "Story" am 18. September 1949 in der Paulskirche, 205 Verlage, 9046 zahlende Besucher. Von einem "Bücherrausch" schrieb damals eine Zeitung, aber wenn das schon ein Rausch war, was sind das danach erst für Räusche geworden. Zwei Jahre später siedelt man schon auf die Frankfurter Messe um, Albert Schweitzer erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 1956 wird der Ausschluss neonazistischer Verlage gefordert, 1965 verbietet die Messe die Verteilung von Tragetaschen als Werbetitel: Es wird zu viel geklaut. 1967 protestiert man gegen Springer, 1968 gegen Franz Josef Strauß, 1971 gegen die Unterdrückungen im Iran...

All das kann man nachlesen in der kurzen Chronik der Buchmesse auf ihrer Website, sich wie im Zeitraffer durch diese Erfolgsstory bewegen. Man entdeckt den jungen Ken Follett, schmal und mit Wuschelmähne, die junge Margret Atwood, schmal und mit Wuschelpony, den mittelalten und brav gescheitelten Siegfried Lenz, sieht den Verleger Siegfried Unseld fast aus dem Bild springen vor Energie, sieht die windzerzauste Astrid Lindgren, den pfeifeschmauchenden Günther Grass... Immer wieder wird sich übrigens auch beschwert – Gigantomanie! Viel zu viel Leute, viel zu teuer, viel zu lange Wege, weil immer neue Stände, neue Medien dazugekommen. 1988 wird Italien erstes Gastland, 2007 das Rauchen in den Hallen verboten.

Die Einheitsstände von 1949, sogenannte Normalstände, sind natürlich schon längst Geschichte. Wer durch die Hallen der 75. Buchmesse läuft, passiert Paralleluniversen: Einzelkämpfer im winzigen Kabuff, Heerscharen von Verlagsmitarbeiterinnen an Ständen, die aussehen wie Festungen und von deren meterhohen Trennwänden einem die Gesichter von Schriftstellerinnen und Schriftstellern entgegenblicken wie die Wächter einer Burg. Bei dtv schaut einen unter anderem Amir Gudarzi an. Von einem Foto an der Wand, ganz groß und ernst. Und blass und etwas müde jetzt auf seinem Stuhl vor dem Tisch mit den Salzbrezeln und dem stillen Wasser, umringt von den Büchern.

Gudarzi beschreibt in seinem Roman ein Paradox

Seine Story? Gudarzi, geboren 1986, besucht in Teheran die damals einzige Theaterschule im Iran und studierte danach szenisches Schreiben. 2009 emigriert er nach Österreich, wird erfolgreicher und ausgezeichneter Dramatiker, jetzt der Roman. Nachdem ein Ausschnitt des Buches in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht wurde, konnte er sich den Verlag aussuchen, es gab mehrere Interessenten. Aber so kann man eine Geschichte natürlich nicht erzählen, so kurz, so holzschnittartig, so KI-artig. In seinem Roman erzählt er nicht die eigene, aber eine ähnliche Geschichte: die des Protagonisten A., ein iranischer Intellektueller, der religionskritische Texte schreibt, demonstriert, aus Teheran fliehen muss, in Österreich strandet, wo er ja eigentlich nach Kanada will, wieder Gewalt erlebt. Erst in der zentralen Aufnahmestelle Traiskirchen, dann in der nächsten Asylunterkunft, verdammt zum Nichtstun, zum Vereinsamen in der österreichischen Provinz. Ohne Sprache, ohne Status.

Was Gudarzi im Roman beschreibt, ist eigentlich ein Paradox: das gleichzeitige Beobachtetwerden und Nichtgesehenwerden. An einer Stelle läuft sein Protagonist A. durch den Regen mit schweren Einkaufstaschen, von einem Dorf zum anderen, plötzlich hält ein Auto – nicht, um ihn mitzunehmen, aber eine Frau reicht ihm einen Regenschirm. "Etwas ist passiert: Ich fühle mich hier zum ersten Mal gesehen. Ich fühle mich gesehen, weil sie mir helfen wollten. Aber ihre Geste macht mir auch bewusst, dass sie uns Flüchtlinge als Gefahr wahrnehmen. Sie denken, dass Österreich ein großes Schönbrunn ist, das den wilden, primitiven, stinkenden Tieren ein Obdach bietet. Ein großer Zoo. Wir werden nur dann zur Gefahr, wenn man mit uns in Kontakt kommen muss. " So steht es im Roman. Auf dem Plakat neben seinem Bild haben sie ein Zitat des Literaturkritikers Denis Scheck geschrieben: "Nachvollziehbarmachen, das kann nur Literatur."

Aufmerksamkeitschaffen, das kann wiederum die Buchmesse. Wobei die Sache mit der Aufmerksamkeit schwieriger geworden ist, Tausende Storys sind es ja, die hier zum Erfolg werden sollen. Und am einfachsten ist es natürlich dann, wenn sie geschrieben werden von einem oder einer, der oder die schon Erfolg hat – wobei es nicht unbedingt ein literarischer sein muss. Die Schlange vor dem Tisch, an dem Moderatorin und Unternehmerin Verona Pooth ihr Buch "Die Supermilf" signiert, zieht sich jedenfalls weit entlang der anderen Stände. Supermilf, bei Verona Pooth bedeutet es übrigens: eine Super-mitten-im-Leben-Frau" oder auch, mit ihren Worten, "heiße Schnitte in der Lebensmitte".

Zizek sorgt auf der Buchmesse für einen Eklat

Neben Pooth steht übrigens noch eine Pooth, aus Pappe, aber wirklich identisch bis auf die Schuhe. Die sind bei der Pappfigur schwarz, bei der Lebendfigur glitzern sie unterm blauen Anzug heraus. Ein Stockwerk weiter oben stellt Helge Schneider seinen Krimi "Steppentanz" vor, schaut selber schön kommissarhaft mit dem kurzen Trenchcoat, witzelt fein vor sich hin: "Künstliche Intelligenz ist ja auch künstliche Doofheit." Und drüben auf der Bühne erklärt Rita Falk, die Auflagenmillionärin, ganz in schwarz, den verrückten Erfolg ihrer Eberhofer-Krimis: Die Leute bräuchten bei all den Krisen halt auch mal etwas zum Weglachen. 

Verona Pooth, Helge Schneider, Rita Falk, Amir Gudarzi, Salman Rushdie? Wie passen all diese Storys zusammen? Oder ist das die Story? Der bunte Bücherrausch? Juergen Boos, Direktor der Buchmesse, stellt dieser Tage nüchtern, aber mit gewissem Stolz fest: "Wir haben hier die gesamte Bandbreite." Wozu an diesem erklärten Ort der Meinungsfreiheit auch eine andere Bandbreite gehört und zur 75. Frankfurter Buchmesse nun ein Eklat: Nach der Eröffnungsrede des slowenischen Philosophen Slavoj Zizek, in der dieser ein Analyseverbot im Nahost-Konflikt beklagt, einige Besucher aus Protest den Saal verlassen, sagt Boos mit steinerner Miene: "Ich bin froh, dass wir die Rede zu Ende gehört haben, auch wenn sie uns nicht gefallen mag. Auch wenn wir sie sogar verurteilen, es ist wichtig, dass wir uns zuhören.“

Terrorangriff der Hamas auf Israel überschattet die Buchmesse

Am nächsten Tag sprechen drei jüdische Schriftsteller in einer noch auf die Schnelle einberufenen Podiumsdiskussion über den Terror der Hamas, sagt Tomer Dotan-Dreyfus: Vor dem 7. Oktober sei Israel "ein sicherer Hafen" für Juden in aller Welt gewesen, ein möglicher Zufluchtsort. Dieser Hafen existiere nun nicht einmal als Illusion. Das ist noch viel schwerer anzuhören. 75. Buchmesse 2023, in der Chronik der Buchmesse, in der sich die Emotion nicht wiederfindet, wird vielleicht einmal sachlich stehen: 4200 Aussteller. Mehr als 300.000 Besucherinnen und Besucher. Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Slowenien ist Gastland. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel überschattet die Buchmesse. So oder so ähnlich, vielleicht geschrieben von einer KI. 

Um Sprachlosigkeit, ums Nichtverstehen zweier Intellektueller, der eine aus dem Orient, die andere aus dem Okzident, auch davon handelt übrigens Amir Gudarzis Roman "Das Ende ist nah". Er hat ihn auf Deutsch geschrieben und wie er die Sprache gelernt hat, auch das wäre schon wieder eine eigene Geschichte wert. "Als ich ins Exil gegangen wurde, wollte ich mit meiner Muttersprache nichts mehr zu tun haben, ich wollte diese Sprache verlernt haben", sagt Gudarzi. Er flüchtete ins Deutsch, ohne Deutschkurs, aber mit Literatur, mit Theaterstücken, mit Thomas Bernhard. Am Ende des Interviews, das letzte des Tages, sagt der Schriftsteller übrigens, er wolle auch der Toilettenfrau danken. Ob man das schreiben könne? Er mag die Randfiguren. Ohne die kann keine gute Story weitergehen. 

 
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