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Buchkritik
Lauren Groff: Ein Verwilderungsroman
Die US-amerikanische Autorin schildert eindrücklich den Überlebenskampf eines Mädchens in der Wildnis Nordamerikas im 17. Jahrhundert – kann es da Hoffnung geben?
Stefanie Wirsching
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:16 Uhr

Nordamerika, 17. Jahrhundert, Jamestown, ein Ort des Schreckens: Die englischen Siedler, Monate vorher aufgebrochen aus Hoffnung, Not oder aus Gier, sterben entweder an Hunger, an den Pocken oder durch die Hand der Ureinwohner. Eines Nachts stiehlt sich ein Mädchen hinaus in die Winternacht: Klettert durch „einen Spalt zwischen den hohen schwarzen Palisaden, scheinbar zu schmal für einen Menschen, … hinaus in die grimmige, weite Wildnis“. 

Mit dieser Szene beginnt der neue Roman „Die weite Wildnis“ der amerikanischen Schriftstellerin Lauren Groff, 282 Seiten lang folgt sie dem Weg dieses Mädchens – vermutlich das einsamste Geschöpf in diesem Literaturherbst. Eine Art Robinsonade also, die Insel, auf der dieser Überlebenskampf stattfindet, ist jedoch ein ganzer Kontinent. Im Norden sollen französische Siedler hausen, zu denen will sie: Widerliche Papisten zwar, aber „doch immer noch Menschen, die zu demselben Gott beten“. Es ist eine so groteske Fehleinschätzung, dass man an dieser Stelle eigentlich schon alles Zutrauen in dieses Mädchen verloren hat. Wie soll diese Flucht durch die feindliche Wildnis gelingen? Mit nichts ausgerüstet als einem Zinnbecher, einem Beil, einem Messer und zwei Decken? Aber Lauren Groff, begnadete Erzählerin, hält den letzten Funken Hoffnung am Glühen … 

Das geschwächte Mädchen ist stärker als erwartet, sammelt Beeren, findet Eichhörnchenbabys und röstet sie über dem Feuer, schlägt einen im Wasser eingefrorenen Fisch aus dem Eis, knabbert die ersten grünen Knospen der Bäume, sammelt Pilze … und entkommt ihrem Verfolger über den zugefrorenen Fluss. Sie trifft auf eine Bärenmutter mit ihren Jungen, ein Wolfsrüde schnüffelt nachts an ihrem Lager – gefährlicher aber ist die Begegnung mit einem Eremiten, vor 40 Jahren als Jesuitenpfarrer ins Land gekommen, seine Sprache ist ihm in der Einsamkeit abhandengekommen – verzweifelt sucht er in den Resten seines Verstandes für den Begriff der Frau. 

Warum sie flieht? Groff offenbart das erst zum Ende.

Warum sie flieht, das offenbart Groff in diesem eindringlich erzählten Roman erst zum Ende. Davor gibt es lediglich Andeutungen, unter den Fingernägeln diese Heldin klebt noch Blut. Der Mann, der ihr nachgeschickt wurde, spricht von ihr als „Mörderin“. Stückweise erzählt Groff ihre Geschichte: Name Lamentatio, als Kind ausgesetzt, die Mutter vermutlich eine Prostituierte, als Vierjährige dann als Ersatz für einen Affen von einer wohlhabenden englischen Dame in ihren Haushalt aufgenommen – um ihr Nachts im Bett die Füße warmzuhalten und für Unterhaltung zu sorgen. Bildung erfährt sie nur zufällig, ihr Wissen beruht auf der Bibel und Schauergeschichten, die ihr der Sohn der Dienstherrin erzählt. Aber sie ist eine aufmerksame Beobachterin und sie ist klug, klug genug auch, um zu wissen: „Die Welt … war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig.“ 

In ihrem letzten Roman „Matrix“ hat Groff, 45, die bereits drei Mal für den National Book Award nominiert war, es auch mit „Licht und Zorn“ auf die berühmte Sommerleseliste von Barack Obama schaffte, das Leben einer Nonne im Frankreich des 12. Jahrhundert beschrieben. Auch da ist ein junges Mädchen auf sich allein gestellt, findet dann in der Gemeinschaft von Frauen in die Kraft, eine feministische Utopie. Die einzige Gesellschaft, die sie Lamentatio als Schutz bietet, sind Bäume, Pflanzen, Tiere, der Mensch als Teil der Natur. Statt Bildungsroman schreibt Groff also so etwas wie einen Verwilderungsroman, schildert den Überlebenskampf in allen Details – Durchfall, Fieber, Läuse – und lässt ihre Heldin zum ersten Mal frei und auf sich gestellt, in neuer Grenzenlosigkeit denken, den Glauben nicht nur an der Überlegenheit der Siedler, der Menschen überhaupt, sondern auch den an Gott verlieren. 

Was Lamentatio jedoch nicht ahnt. Ihre Flucht ist nicht unbeobachtet. Einmal begegnet sie am Fluss, den sie in einem dem Eremiten entwendeten Boot entlang paddelt, spielenden Kindern, fantasiert, wie sie als mystische Figur in den Geschichten der Pontahacs die Zeit überlebt. Aber die allwissende Erzählerin Groff ordnet das Ganze nüchtern ein: Die Kinder lachen über die „Verrückte“, von der sie bereits gehört haben, spielen weiter. Nach wenigen Minuten ist Lamentatio vergessen - sicher aber nicht bei den Lesenden. Ach Mädchen. 

Lauren Groff: „Die weite Wildnis.“ Aus d. Englischen von Stefanie Jacobs. Claassen, 276 Seiten, 25 Euro.

 
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