Da sitzen Schweine mit gekräuseltem Kragen vor geöffneten Konservendosen. In einem apokalyptischen Wald bäumt sich eine monströse Nacktschnecke auf. Und durch den Nachthimmel flitzt ein weiblicher Orion auf Schlittschuhen. Im Kosmos der Anke Feuchtenberger ist alles möglich, aber vielleicht gehört das Eintauchen in surreale Welten zu den Überlebensstrategien in einem System, das wenig Freiheiten lässt. In ihrer Graphic Novel „Genossin Kuckuck“ geht es düster zu, manchmal sogar saukomisch, und man weiß nie so recht, wo die Wirklichkeit aufhört und der (Alb)Traum beginnt.
Unter der Trophäe eines Keilers schwören sich zwei kleine Mädchen – Kerstin und Effi – ewige Freundschaft. Das ist der Ausgangspunkt für eine Reise durch Feuchtenbergers eigene Vergangenheit und das Aufwachsen in der DDR. Das heißt, im fiktiven Dorf Pritschitanow, das einst von der ungarischen Volksrepublik mit einem gigantischen Lenin-Denkmal beschenkt wurde.
Bei Feuchtenberger spielt das Politische ins Private hinein
In Pritschitanow können gemütliche Feste schon mal eskalieren, wie letztlich vieles unter der streng gebürsteten Fassade gärt und blubbert. Es wird nie offen geredet, ohnehin nicht über den Krieg. Das kennt man auch im Westen zur Genüge, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass in der DDR die Russen nach 1945 nicht nur Verbündete, sondern gute Freunde zu sein hatten.
Feuchtenberger deutet solches nur an, aber ihr Rückblick zeigt, wie sehr das Politische ins Private hineinspielt. Kerstin, das Alter Ego der Autorin, und Effi haben beide nicht viel von ihren Müttern. Die eine verschreibt sich dem Aufbau des Sozialismus, deshalb wächst Kerstin bei der Großmutter auf. Die andere ist die wasserstoffblonde Dorfsexbombe, deren Mann Kontakt zu den russischen Soldaten unterhält und deren Geliebter ein Erziehungsheim leitet.
Anke Feuchtenberger überlässt ihren Lesern die Auslegung
Feuchtenberger erzählt keine zusammenhängende Geschichte und sie entwickelt auch in diesen über zehn Jahre hinweg entstandenen Episoden ihre eigene, sehr rätselhafte Ikonografie. Das macht es mühsam. Auf der anderen Seite überlässt die 1963 in Ostberlin geborene Zeichnerin ihrem Publikum die Auslegung. Den Zeigefinger kennt sie sowieso nicht. Und vieles kann man in diesem Konglomerat aus Kinderkram und Drill, Solidarität und Übergriffigkeit auch nicht verstehen.
Dass ausgerechnet Tiere darüber beraten, unter welchen Umständen eine Mutter ihr Kind verlassen darf, hat schon wieder – im doppelten Wortsinn – fabelhaft schräge Züge. „Aber jemand muss doch arbeiten gehen“, stellt Frau Kuckuck fest. Überhaupt sind es die Hunde und Wölfe, Eulen, Schweine und immer wieder die Schnecken, die einen ganz sonderbaren Sog ausüben.
Die Graphic Novel sind jenseits jeder Marktstrategie gezeichnet
Feuchtenberger, die seit über 30 Jahren an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften „Graphische Erzählung“ unterrichtet, pflegt eine sehr eigenständige Bildsprache, fern jeder Marktstrategie. Mit Preisen wurde die Comic-Professorin überhäuft, und die Absolventen ihrer Klassen dominieren die deutsche Szene. Darunter Barbara Yelin, Simon Schwartz, Line Hoven und Sascha Hommer. Man brauchte sich also nicht zu wundern, als Feuchtenberger vor zwei Jahren, da war sie noch keine 60, beim Internationalen Comicsalon in Erlangen mit dem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.
Nun ist „Genossin Kuckuck“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – im Bereich Belletristik. Ein Novum, aber bei einer Pionierin poetischer Bildergeschichten auch nicht aus der Luft gegriffen. Dieses Opus magnum, wie es der Verlag bezeichnet, gleich noch mit Goldschnitt zu versehen, spricht außerdem Bände.
Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck. Reprodukt Verlag, 480 Seiten, 44 €.