Das Monster-Molekül in knalligem Pink sticht sofort ins Auge. Dahinter blinken noch mehr dieser fliegenden Knubbelkissen in Orange, Grün, Blau. Man kommt sich vor wie beim Kindergeburtstag im Land der Riesen – und steht einfach nur in einem umfunktionierten Heizkraftwerk. Dort, wo bis in die frühen 1980er-Jahre Kohle verbrannt wurde, dominiert seit April die Kultur: vom Big-Band-Gig bis zum „Musikalischen Frühlingserwachen mit Drei-Gang-Menü“ ist so ziemlich alles geboten, seit Kurzem auch noch große Kunst. Und das alles im abgelegenen München-Aubing, umgeben von einem faden Mix aus Gewerbe- und Wohngebiet.
Bis auf ein paar Techno-Partys in den 1990ern haben sich bislang keine steppenden Bären hierher verirrt. Doch das muss nicht so bleiben. Im Ruhrgebiet gibt es zig Erfolgsbeispiele für kulturell genutzte Zechen, die Londoner Tate Modern sitzt in einem alten Kraftwerk und zählt zu den Hotspots der internationalen Kunst. Das lassen auch Christian und Michael Amberger gerne einfließen. Die Betreiber der Allguth-Tankstellen stehen hinter dem Münchner Großprojekt, das durch seine Lage an der Bergsonstraße als Bergson Kunstkraftwerk firmiert.
Im neuen Kunstkraftwerk Bergson richtet Johann König seine fünfte Galerie ein
Dass die Galerie ausgerechnet mit einer Künstlerin eröffnet, deren Werke um das Thema Erdöl in all seinen Aggregatzuständen kreisen, ist ein gelungener Zufall mit frechem Seitenhieb. Monira Al Qadiri nimmt's mit dem höflichen Humor einer Diplomatentochter und sieht vor allem: den Raum! Das Atrium misst allein in der Höhe 25 Meter. So viel Platz gab es nie für ihre ausladenden Skulpturen. Im Kunsthaus Bregenz, wo die Arbeiten der Kuwaiterin vor einem Jahr zu sehen waren, stieß das eingangs erwähnte "Kekulene" an die Decke. Das Bergson könnte man mit unzähligen dieser Luftkissen füllen, für Johann König war das einer der Gründe, im neuen Kunstkraftwerk seine immerhin fünfte Galerie einzurichten – 2000 Quadratmeter warten auf Skulpturen, Flachware, Installationen.
König wurde einem breiten Publikum durch seine Autobiografie "Blinder Galerist" ein Begriff. Beim Umfüllen der Munition einer Schreckschusspistole hat er im Alter von elf Jahren fast sein Augenlicht verloren. Eine grausige Geschichte. Doch der Sohn des Kurators Kasper König – bis 2012 Direktor des Museums Ludwig in Köln – hat sich mit einer Mischung aus Gespür und Biss in der Galerieszene ganz nach oben geschuftet. Zwei Stützpunkte gibt es in Berlin, Herzstück ist die Kreuzberger Sankt-Agnes-Kirche im brutalistischen Stil der 1960er-Jahre. Dazu kommen Dependancen in Mexiko City und Seoul. Messen wie die Art Basel haben früh schon zu den Selbstverständlichkeiten gehört. Dann wurde König im August 2022 in der Wochenzeitung Die Zeit mit Vorwürfen der sexuellen Belästigung konfrontiert.
Einige Künstlerinnen und Künstler haben die Galerie nach MeToo-Vorwürfen verlassen
Einige Künstlerinnen und Künstler haben sich daraufhin von seiner Galerie getrennt, darunter Katharina Grosse und Monica Bonvicini. So etwas hinterlässt freilich Schlaglöcher in der Bilanz, doch die Ansammlung bekannter Namen ist nach wie vor beträchtlich. Auf die Auswirkungen der MeToo-Vorwürfe angesprochen, sagt König im Telefonat mit dieser Redaktion: "Gegen mich lag und liegt nichts vor, aber die Staatsanwaltschaft ermittelt aktuell immer noch wegen Falschaussage und Verleumdung." Seine beim Deutschen Presserat eingereichte Beschwerde über den Zeit-Artikel ist hingegen als „unbegründet“ abgewiesen worden.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Expansion nach München fast wie eine Gegenoffensive. Dabei hatte König die Stadt schon lange auf seiner Wunschliste. Im Oktober 2019 gab es mit seinem Galerie-Best-of sogar einen kurzen wie lukrativen Auftritt beim Auktionshaus Ketterer in Riem. Die Gebrüder Amberger hatten insofern gute Karten und mussten nach dem Absprung der relativ kleinen Pulpo-Galerie aus Murnau nicht lange werben. Benedikt Müller, der im Kraftwerk für die Kunst und das Bildungsprogramm mit ambitionierten Diskussionsreihen zuständig ist, erzählt vom Besuch mit Michael und Silvia Amberger in Berlin und einem Johann König, der gleich beim ersten Gespräch begonnen habe, detaillierte Pläne zu skribbeln.
König schätzt an München das erhebliche Interesse an der Kultur
Wobei das Bergson auch eine Mischung bietet, die der Galerist schätzt, also das Aufeinandertreffen von Musik und Gastronomie, Party und Talk, überhaupt dieses "Ich schau mal vorbei" und den immensen Platz. "Uns geht es darum, Kunst im Raum erfahrbar zu machen, dazu braucht es auch eine gewisse Großzügigkeit", betont König.
München mag nicht so sexy sein wie Berlin – das würde der 42-Jährige natürlich niemals so formulieren. An der Stadt schätzt König das erhebliche Interesse an der Kultur und nicht zuletzt eine potente Sammlerschaft. Das Bergson könnte mit seiner "gediegenen Coolness und damit einer Symbiose aus Berlin und München", wie er zusammenfasst, einen Nerv treffen.
Langfristige Verträge sind noch nicht unterzeichnet, man muss sehen, wie die Sache ankommt und wie sich das Programm mit dem Neubau entwickelt. Seit einer Woche werden Atrium und Silos bespielt, das sind die Bereiche, aus denen früher die Kohle in die Brennöfen geschüttet wurde. Und die farbstarken Arbeiten Monira Al Qadiris leuchten, als hätte sie genau hier zwischen den anthrazit getönten Betonwänden den idealen Platz gefunden. Die 40-Jährige ist in München keine Unbekannte, 2019 hat ihr das Haus der Kunst eine Ausstellung gewidmet. Wenn man so will, ist Al Qadiri eine sichere Bank. Davon abgesehen bewegen sich die Preise im vier- bis oberen fünfstelligen Bereich.
Die 1600 Quadratmeter, die ab Mitte Juli im Neubau zur Verfügung stehen, sind dagegen eine echte Herausforderung. Aber König ist ein Profi, auch im Aufhören, wenn es nicht läuft: "In Japan war es kaum möglich, Kontakte zu knüpfen, in London sind wir an der Brexit-Bürokratie und den absurden Zöllen gescheitert", bekennt er offen. So viel ist gewiss: München macht in dieser Hinsicht kein Gschiss.
König Galerie im Bergson, täglich von 11 bis 19 Uhr, Am Bergson Kunstkraftwerk 2