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Jubiläum
Als Beethoven Ungeheuerliches schuf: 200 Jahre Beethovens 9. Sinfonie
Freude schöner Götterfunken: Vor genau 200 Jahren feierte Beethovens 9. Sinfonie ihre Uraufführung. Drei Experten erklären die Faszination des Werks.
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Foto: Rolf Vennenbernd, dpa | Das Beethoven-Denkmal wird in Bonn zurück auf den Sockel gehoben. Beethovens berühmte 9. Sinfonie ist jetzt 200 Jahre alt.
Veronika Lintner
 |  aktualisiert: 15.05.2024 02:48 Uhr

Eine Sinfonie wie keine zweite feiert Geburtstag: 200 Jahre Beethovens Neunte. 200 Jahre "Ode an die Freude". Was macht die Macht dieser Musik aus? Dazu haben wir drei Experten befragt, die der 9. Sinfonie in d-Moll, op. 125, so nahe kommen wie nur wenige. Eine Beethoven-Forscherin, dazu ein Konzertmeister, der die Neunte liebt – und ein Dirigent, der jedes Jahr einen Chor von 10.000 Menschen leitet, die gemeinsam singen: "Freude schöner Götterfunken …"

Ein fast kunstreligiöses Ereignis bahnte sich im Mai 1824 in Wien an

Schon vor der Uraufführung war die Begleitmusik immer lauter geworden, das Getuschel und Getrommel um die Sinfonie Nr. 9: Konzertankündigung für den 7. Mai 1824 – Neues von Beethoven! Auszüge seiner "Missa Solemnis"! Dazu eine Sinfonie mit Worten, nach Friedrich Schillers Gedicht "An die Freude"! Ein theatrales, fast kunstreligiöses Ereignis bahnte sich an, im Theater am Kärntnertor in Wien. "Es rumorte in Wien. Die Leute wussten, dass da etwas Besonderes auf sie zukommt", erklärt Christine Siegert. Sie leitet das Beethoven-Archiv im Beethoven-Haus Bonn. Die Musikwissenschaftlerin beschreibt den Rausch einer Uraufführung: "Wir haben diese Musik heute auswendig im Ohr, wir können uns nicht vorstellen, wie ungeheuerlich sie für das Publikum damals klang. Völlig unerhört." 70 Minuten Musik, eine neue sinfonische Dimension. Zum ersten Mal in der Geschichte der Gattung Sinfonie wird nicht nur gespielt, sondern auch gesungen.

"Das ganze Konzert hatte ein Friedensbotschaft", erklärt Siegert. "Schon die Missa Solemnis bezeichnete Beethoven als 'Bitte um inneren und äußeren Frieden'." Europa hatte brutale Kriegsjahre überwunden, napoleonische Gefechte – und an jenem 7. Mai 1824 wollte Beethoven Textzettel im Publikum verteilen, damit alle mit dem Chor singen könnten: "Alle Menschen werden Brüder", mit Pauken, Trompeten, Posaunen. Auch wenn der Meister selbst, längst ertaubt, keinen Ton mehr davon hörte.

Verdi mäkelte über Beethovens Neunte

Die ersten Reaktionen auf die Uraufführung nennt Siegert als "ambivalent". Von verdattert über kritisch bis überwältigt. "Wir warten darauf, es ein zweites Mal zu hören, schrieb ein Zeitzeuge." Noch Giuseppe Verdi würde Jahrzehnte später mäkeln, das Finale sei "schlecht gesetzt". Richard Wagner aber fand, die Neunte sei "Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinen Kunst." 

Diese Musik überschreitet die Grenzen der Partitur, die Grenzen der Kunst und schreibt mit an der Weltgeschichte. Wegmarken im Lebenslauf einer Sinfonie: 1972 wählte der Europarat die Ode zur offiziellen Europahymne. 1989 fiel die Mauer, Leonard Bernstein dirigierte die Neunte in Berlin und schraubte dafür an Schillers Text: Freude? "Freiheit schöner Götterfunken". Politischer Gebrauch, politischer Missbrauch: Wilhelm Furtwängler dirigierte im Zweiten Weltkrieg die Neunte für Adolf Hitler, zum Geburtstag des Diktators – "alle Menschen werden Brüder", schrieb Schiller. "Aber alle Menschen? Da waren bei Weitem nicht mehr alle gemeint", ordnet Siegert ein. Auch Josef Stalin liebte dieses Werk, als "die richtige Musik für die Massen". Aber alles Zerren, Reißen, Aneignen und Hineindichten scheint das Werk zu überstehen.

Beethoven stellte die humanistische Botschaft gegen die Gewalt

Eine Friedensbotschaft, am Ende eines Weltkrieges: 1918 spielte das Leipziger Gewandhausorchester die Sinfonie bei einem Konzert am Silvesterabend. "Der Kapellmeister Arthur Nikisch dachte an die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Gegen diese Gewalt wollte er die humanistische Botschaft der Neunten stellen", erklärt Frank-Michael Erben – der heutige Konzertmeister des Gewandhausorchesters. Die Tradition lebt weiter: Seit 105 Jahren spielt das Weltklasse-Orchester die Sinfonie zum Jahreswechsel. Dreimal geben sie die Neunte in jedem Jahr, dreimal ist sie ausverkauft und doch dreimal für Erben, 1. Geige, etwas Besonderes. 

Erben liebt die Vielfalt in Beethovens Werk – und die Vielfalt in der 9. Sinfonie. Im ersten entfaltet Beethoven einen Gedanken, einen zweiten, die Musik bäumt sich auf. Im zweiten Satz dann ein ratternder, punktierter Puls, Musik aus blankem Rhythmus. "Dieses Sturköpfige, dieses Unbändige", nennt es Erben, das aber im Trio plötzlich in liebliche Passagen übergeht. Erben schwärmt auch vom elegischen langsamen Satz: "Da ziehen die Bilder des zu Ende gehenden Jahres noch einmal in der Erinnerung vorbei." Und: "Der überwältigende Moment, wenn sich der ganze Chor erhebt und 'Freude!' singt!"

Yukato Sado dirigiert den Chor der 10.000

Als er 1999 diese Einladung erhielt, dachte Yukata Sado: Das muss ein Scherz sein. Der Japaner hatte damals schon bedeutende Orchester dirigiert, mit Größen wie Leonard Bernstein gearbeitet. Dann erreichte ihn eine Anfrage aus seinem Heimatland: Dirigent gesucht für Beethovens Neunte. Aber für eine Aufführung im Großformat. Mit 10.000 Sängern. "Zuerst fühlte sich das wie ein aberwitziges Event an, ich lehnte ab", erinnert sich Sado. Aber der Organisator, das japanische Misch-Unternehmen Suntory, das sich gerne mit Kulturevents schmückt, ließ nicht ab. Und Sado sagte zu. Seit 1999 leitet er jedes Jahr das Konzert "Suntory Presents Beethoven’s 9th with a Cast of 10000". Sado ist überzeugt: "Das ist ein Konzert, das weltweit ausgestrahlt werden sollte. Um der ganzen Welt die Botschaft der Neunten zu vermitteln, diese große, enorme Weltsicht, durch die Stimmen von 10.000 Menschen."

An seiner ersten Neunten als Dirigent erinnert Sado exakt: Er war 20 Jahre alt, studierte im Hauptfach Flöte, dirigierte das Studentenorchester. "Damals faszinierte mich das Wort 'Freude'. Ich dirigierte das Werk mit dem Gefühl, es sei fröhlich." Doch die Zeit wirkt auf das Werk, Sado sucht nach der Bedeutung der Neunten heute: "Seit 2001 sind wir Zeuge geworden von zahlreichen Terrorattacken, Naturkatastrophen, Pandemien, Kriegen und Konflikten rund um die Welt. Mir ist klar geworden, dass Freude nicht leicht zu erreichen ist." Geht es nach Sado, vermittelt das Werk eine Botschaft mit allem Ernst – und der Dirigent zitiert die Schiller-Ode: "'Seid umschlungen, Millionen' … sonst können wir die Freude nicht erlangen." 

 
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