Benjamin Rozenfeld zeichnete, was er sah. Und zum besseren Verständnis hielt er das Gesehene auch mit Worten fest. "An einem Dezembermorgen im Jahr 1941 fand der Besitzer eines Ladens in der Mila-Straße ein totes Kind vor der Tür seines geschlossenen Geschäfts. Der kleine, steife, abgemagerte Körper war eng an die Türschwelle des Ladens gepresst …" Weshalb Rozenfeld die Szene "Sterbekasse" genannt hat, erklärt sich aus dem Folgenden: Auf der Straße wird es lebhafter, ein Vertreter des Bestattungsunternehmens erscheint und beginnt, Geld einzusammeln. "Die einzige Hinterlassenschaft des toten Kindes – ein Tontopf, der manchmal mit gespendeter Suppe oder ein paar Münzen gefüllt war – wird nun von dem geschäftstüchtigen Unternehmer mitten auf den Bürgersteig gestellt." Es wird nicht lange dauern, bis sich in dem Topf genügend Groschen finden, um das Kind zu begraben. Und, fährt der Kommentator fort, "das Bestattungsunternehmen wird Gewinn machen, die Passanten haben eine der vielen mitzvot (gute Taten) verrichtet, der Laden wird seine Geschäfte aufnehmen und das Leben in der Mila-Straße wird weitergehen". Alltag im Warschauer Ghetto.
Als die deutsche Wehrmacht in Polen einfällt und damit den Zweiten Weltkrieg eröffnet, wird die Unterdrückung der Juden auf die besetzten Gebiete ausgeweitet. In Warschau, seinerzeit die größte jüdische Gemeinde Europas, wird 1940 von den Besatzern ein ganzer Stadtteil abgegrenzt. Bis zu 460.000 jüdische Bewohner leben hier während der kommenden zwei Jahre zusammengepfercht unter extremen Bedingungen. Im Bewusstsein dieses bis dahin unvorstellbaren Ereignisses beschließt der Historiker Emanuel Ringelblum, das Leben innerhalb der Mauern zu dokumentieren und gründet die im Geheimen arbeitende Gruppe Oneg Schabbat ("Freude des Sabbat"), die aus Frauen und Männern verschiedenster Berufe besteht und von nun an Dokumente aller Art über die Zustände und Ereignisse sammelt.
Das Archiv des Warschauer Ghettos als Akt des zivilen Widerstands
Anders als die meisten seiner Bewohner hat dieses Archiv den Krieg und den Holocaust zu großen Teilen überdauert. Ihm widmet das NS-Dokumentationszentrum München seine neue Ausstellung "Wichtiger als unser Leben", gemeinschaftlich erarbeitet mit dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau, das aus gutem Grund den Namen Emanuel Ringelblums trägt, denn hier wird der einzigartige Dokumentenschatz aus dem Warschauer Ghetto aufbewahrt. Eines war den Ausstellungsmachern vor allem wichtig: Dass die Schau, ganz im Sinne der Oneg-Schabbat-Gruppe, das Leben und Sterben der Juden in Warschau ausschließlich aus der Binnensicht der Ghetto-Bewohner zeigt – als einen Akt des "zivilen Widerstands", wie die Kuratorin Ulla-Britta Vollhardt vom NS-Dokuzentrum sagt.
Zwölf Originale – darunter Rozenfelds "Sterbekasse"-Zeichnung mitsamt handschriftlichem Kommentar – sind vom Jüdischen Historischen Institut aus Warschau nach München gekommen und bilden die authentizitätsgesättigten Spitzen der Ausstellung, die sonst weitgehend auf Reproduktionen setzt, was jedoch der Eindrücklichkeit des Thematisierten in keiner Weise Abbruch tut. Ein Kochrezept, das gedünstete Steckrüben mit gebratenen Steckrüben zum Eintopf empfiehlt, vermag auch als Reproduktion von den katastrophalen Ernährungsbedingungen zu erzählen, unter denen die auf rationierte Lebensmittel angewiesenen Bewohner um ihr Überleben kämpften.
Nicht jeder auch dürfte unter den Mangelbedingungen die Kraft besessen haben, die Situation satirisch aufzugreifen wie die junge Teofila Langnas, die auf künstlerisch gestalteten Blättern den verwaltenden Judenrat aufs Korn nahm, etwa mit einem – im Original zu sehenden – Blatt, auf dem auf weitem blauem Grund sich ein winziges Klümpchen Brot abhebt: Davon soll man leben können? Jene Teofila Langnasübrigens, die im Ghetto ihren Mann kennenlernte. Das Paar wagte die Flucht, überlebte und übersiedelte nach dem Krieg in die Bundesrepublik, wo Ehemann Marcel Reich-Ranicki eine beispiellose Karriere als Literaturkritiker gelang.
"Umsiedlung" bedeutete nichts anderes als Vernichtung
Eine eigene Ebene der Ausstellung bilden die zahlreichen Hörstationen mit ihren Audio-Zeugnissen, die von Schauspielerinnen und Schauspielern der Münchner Kammerspiele eingesprochen wurden und den gezeigten Exponaten oftmals erst ihren rechten Rahmen zukommen lassen.
Dann der 22. Juli 1942, der Tag der "Bekanntmachung" der Räumung des Ghettos durch die Deutschen. 300.000 Bewohner werden "umgesiedelt", so der NS-Sprachgebrauch, was nichts anderes als Tod in den Vernichtungslagern bedeutet. Da die Oneg-Schabbat-Gruppe schon seit einiger Zeit Berichte von routinemäßigen Massakern hatte, änderte sie ihre Strategie und begannen nun verstärkt, die systematische Auslöschung der Juden zu dokumentieren. Die nach der "Umsiedlung" im Warschauer Ghetto noch Verbliebenen wussten, dass auch ihnen über kurz oder lang die Ermordung drohte, und so stießen die Deutschen, als sie im Frühjahr 1943 ins Ghetto vordrangen, auf bewaffneten Widerstand.
Nur ein Überlebender wusste, wo das Versteck war
Auch wenn die Deutschen am Ende die Oberhand gewannen und das Ghetto in eine Steinwüste verwandelten – das geheime jüdische Archiv konnte zuvor, in Blechkästen und Milchkannen eingelagert, unter dem Boden einer Schule vergraben werden. Fast noch fantastischer mutet an, dass es nach dem Krieg wiedergefunden wurde. Nur drei der ehemals etwa 60 Oneg-Schabbat-Mitarbeiter hatten die Shoah überlebt, ein einziger wusste, wo gegraben werden musste.
Zeugnis zu geben von den Ereignissen, war den Mitarbeitern des Ghetto-Archivs das Wichtigste, wie einer von ihnen, Dovid Graber, in der Hochphase der Warschauer Deportationen im Sommer 1942 in seinem Testament schrieb: "Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir im Boden vergraben." Denn, so der 19-jährige: "Wir spürten die Verantwortung … Und das war wichtiger als unser Leben."
Ausstellung:Bis 7. Januar 2024 im NS-Dokumentationszentrum München, Di bis So 10 bis 19 Uhr.