Berühmt geworden ist die Fotografin Herlinde Koelbl für ihren besonderen Blick, aber auch ihre Ausdauer und Hartnäckigkeit. Lange hat sie an ihren großen Themen gearbeitet, ob nun für "Das deutsche Wohnzimmer", "Starke Frauen" oder "Spuren der Macht". Immer ist auf ihren Bildern mehr als nur ein Porträt zu sehen, hat sie da auch in ihren Aufnahmen Geschichten sichtbar gemacht. Nun hat sich Koelbl noch einmal als Fotografin etwas vollkommen Anderem zugewandt: erstmals nicht den Menschen, sondern der Natur.
"Metamorphosen" heißt die Ausstellung im Augsburger H2-Zentrum für Gegenwartskunst. Die 83-Jährige präsentiert darin über 80 neue Arbeiten ihres neuen Werkzyklus, entstanden in den zurückliegenden sieben Jahren. Koelbl hat darin das Verwelken, das Vergehen von Pflanzen festgehalten, den Moment der Verwandlung, wenn das Leben weicht. Blüten, die verschrumpeln, Farben, die verblassen, Formen, die sich auflösen. Versammelt ist ein großer Abgesang, das Schöne, das gerade schwindet.
Die Gedanken sollen Koelbls Arbeiten fortspinnen
Gleichzeitig wirkt auch dieses Vergehen, das Koelbl festgehalten hat, geradezu verschwenderisch opulent. Die Farben schimmern oft, sind nicht mehr genau zu benennen, wechseln gerade in andere, dunklere Tönungen. Die Blütenblätter kräuseln sich zu bizarren Formen. Manchmal meint man, ein Gesicht zu entdecken, dann wieder eine strenge geometrische Form oder etwas Grafisches. So wie einen Wolken immer wieder dazu anregen, etwas in den willkürlichen Formationen zu entdecken, lässt sich das auch im H2 bei diesen Naturaufnahmen machen. Die Gedanken können, ja sollen das munter fortspinnen.
Die Einblicke und Ausschnitte, die Koelbl gefunden hat, schaffen eine weitere Ebene. Oft werden die Objekte dadurch aus ihren Hintergründen gelöst, verlieren ihren Bezug und Kontakt zur Umwelt und wirken dadurch umso intensiver aus sich heraus. Das Geläufige, das Bekannte, hier wirkt es fremd und anders, ja verwandelt, oft auch erhaben in dem Vergehen. Mit dem Titel "Metamorphosen" liegt Koelbl goldrichtig. Der Titel weist den Weg, was da alles gesehen werden kann.
Eine Fortentwicklung ihres fotografischen Schaffens
Für die Künstlerin bedeutet dieser neue Werkzyklus keinen Bruch, sondern eine folgerichtige Fortentwicklung ihres fotografischen Schaffens. "Ich bin nicht der Menschen müde geworden", sagt sie am Rande der Ausstellungseröffnung. "Im Gegenteil, es ist eine Erweiterung. Früher war ich immer auf den Menschen fokussiert, jetzt habe ich mich auch der Natur zugewandt." Wie bei ihren anderen großen Serien legt sie auch bei den Naturaufnahmen das Augenmerk auf die Veränderung.
Genauso wie bei ihren anderen Serien war auch bei den Naturaufnahmen der Schlüssel für alles die Offenheit und Zuwendung im Blick, die Achtsamkeit der Fotografin. Es sind keine zufällig im Vorbeigehen entstandenen Schnappschüsse, die Koelbl präsentiert, sondern Aufnahmen, die durch langes und genaues Hinsehen entstanden sind. Nur so kamen diese Schnitte, diese Perspektiven und dadurch auch die zusätzlichen Ebenen hinzu. Manches Bild wirkt wie eine abstrakte Arbeit, wie die Lust der Natur auf das Spiel mit der Form.
Auch das Gegenteil, das Werden, ist ein Thema
In dem Vergehen steckt natürlich auch das Gegenteil, das große Versprechen der Natur in jedem Herbst und Winter, dass es auch wieder einen Frühling, ein neues Wachstum, eine neue Blüte geben wird. Der Mensch weiß das, wenn er die vergehende Natur in ihrem ewig sich fortspinnenden Kreislauf sieht.
Wer möchte, kann sich ausgehend von diesen Bildern in die große Menschheitsliteratur hin begeben, also zum Beispiel zu Ovid und seinen "Metamorphosen" - oder zum großen deutschen Philosophen des Werdens und Vergehens, zu Friedrich Nietzsche und dessen Gedanken von der ewigen Wiederkehr. Einmal macht Koelbl das überdeutlich, einmal wechselt sie mit zwei Bildern auf die menschliche Ebene, hier ein Säugling bei seinem ersten Schrei, dort, direkt daneben, alte, faltig gewordene Haut.
Zum Schönen, oder besser noch, Großartigen dieser Fotografien gehört, dass diese geistigen Ausflüge nicht wichtig sind, dass die Arbeiten auch frei von solcher Aufladung etwas transportieren. Die Hängung und der stete Wechsel verschieden großer Formate führen immer wieder zu neuen Wahrnehmungen, hier rückt stärker die gesamte Komposition in den Blick und dort das Detail. Auch die Betrachterin und der Betrachter sollen sich wie die Fotografin auf das Abenteuer des Sehens einlassen - und dazu gehört: anzuhalten, innezuhalten und immer wieder auch den Abstand zu ändern.
In einer Videoarbeit führt Koelbl vor, wie sie beim Natur-Fotografieren vorgeht, zeigt, wie nah sie den Pflanzen kommt und wie sich der Blick immer wieder auf Neues richtet. Man spürt in manchen Augenblicken, dass da gerade ein fertiges Bild auf der Leinwand zu sehen ist, dann wandert der Blick weiter, öffnet sich Neuem, wird wieder vager, unbestimmter. In einer Diaserie hat Koelbl dann Ausschnitte von Grabsteinen festgehalten und immer auch ein wenig von dem umgebenden Grün, das Werden und Vergehen von Menschen liegt da maximal verkürzt vor: auf zwei Jahreszahlen und einen Namen. Damit öffnet Koelbl noch einmal einen großen Raum: hier die Natur mit ihren Ewigkeitszyklen, dort das Individuum in seiner Endlichkeit. Dieser Gegensatz berührt das Menschsein an sich: der Mensch im Zwiespalt, als Teil der Natur und als ein mit der Gewissheit des Todes lebender Fremdkörper.
Info: Die Ausstellung "Metamorphosen" von Herlinde Koelbl ist bis zum 23. April 2023 im H2-Zentrum für Gegenwartskunst in Augsburg zu sehen. Die Öffnungszeiten sind Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr. Im Steidl Verlag erscheint demnächst von Herlinde Koelbl der Bildband "Metamorphosen", in dem auch viele Fotografien der Ausstellung enthalten sind (120 Abbildungen, 160 Seiten, 45 Euro).