Auf ihrem Anrufbeantworter knarzte eine Stimme, sie solle aufhören damit. Aufhören, Veranstaltungen zu organisieren, die an den jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnern. So berichtet es eine Teilnehmerin, die im Jüdischen Museum in Augsburg kürzlich an einem Argumentationstraining gegen antisemitische Sprache teilgenommen hat. Sie ist Jüdin und möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Die weiteren vier Teilnehmenden auch nicht. Eine andere Frau, etwa Mitte 20, sagt, ihr Vater sei jüdisch und habe große Angst, als Jude identifiziert zu werden. Deshalb äußere er sich immer wieder selbst antisemitisch. Nicht alle Teilnehmenden haben jüdische Wurzeln oder waren schon von Antisemitismus betroffen. Dennoch möchten sie erfahren, was sie antisemitischen Aussagen entgegensetzen können.
Das Training, initiiert vom Jüdischen Museum, richtete sich an Menschen, die sich gegen menschenverachtende Einstellungen und gegen die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden einsetzen wollen. Es war Teil des Begleitprogramms zur aktuellen Ausstellung "Feibelmann muss weg. Ein antisemitischer Vorfall aus der schwäbischen Provinz". Diese läuft bis zum 3. September 2023 in der ehemaligen Augsburger Synagoge Kriegshaber.
Die Zahl der antisemitischen Vorfälle bleibt in Deutschland auf hohem Niveau
Laut dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) sind Jüdinnen und Juden in Deutschland einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Das geht aus dem aktuellen Jahresbericht hervor. 2480 Fälle wurden 2022 dokumentiert – beinahe sieben Fälle pro Tag (2021 waren es 2738). Dazu zählten etwa Beschimpfungen, Schmierereien an Gebäuden oder tätliche Angriffe. Dabei richtete sich der Antisemitismus sowohl gegen Einzelpersonen als auch gegen Institutionen. Anders als in der Kriminalstatistik werden hier auch Vorfälle mitgerechnet, die nicht strafbar sind. Unter den Fällen, die RIAS registrierte, war die häufigste Form der Post-Schoah-Antisemitismus. Er bezieht sich auf den Umgang mit den nationalistischen Massenverbrechen. Etwa, wenn die Erinnerung daran abgelehnt oder verharmlost wird.
Eva Gruberová von der RIAS Bayern leitet den Workshop. Sie arbeitete 16 Jahre in der Dachauer KZ-Gedenkstätte, einer ihrer Schwerpunkte bei der RIAS ist die Bildungsarbeit. Sie sagt, viele sähen nicht, dass Antisemitismus aus jeder gesellschaftlichen Schicht komme. "Es gibt keinen antisemitismusfreien Raum. Weder im Privaten noch im Öffentlichen. Und Antisemitismus war nie weg." Antisemitismus sei eine Ideologie und eine Weltanschauung, in der Juden als imaginiertes Kollektiv für alles Schlechte verantwortlich gemacht würden.
Bei Antisemitismus kann es helfen, Gegenfragen zu stellen
Im Workshop erarbeiten die Teilnehmenden Argumente, die sie antisemitischen Parolen entgegensetzen können. Etwa dann, wenn Menschen überzeugt sind, es müsse nicht mehr über den Nationalsozialismus gesprochen werden, schließlich treffe die aktuellen Generationen keine Schuld. Eine Teilnehmerin schlägt vor, da explizit auf den weit verbreiteten Antisemitismus hinzuweisen und zu betonen, dass Verantwortung nicht bedeute, persönlich Schuld zu tragen.
Gruberová sagt, bei antisemitischen Äußerungen sei es wichtig, eine klare Haltung zu zeigen, Gegenfragen zu stellen, zu irritieren und zu signalisieren: Man hat mitgehört und lässt solche Aussagen nicht einfach stehen. Das könne auch andere Menschen ermutigen, sich anzuschließen, ihre Stimme gegen Antisemitismus zu erheben. Wichtig sei aber, auf die eigene Sicherheit zu achten und zu akzeptieren: Es ist nicht immer möglich, das Gegenüber zu überzeugen.
Auch wenn die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr laut Statistik abgenommen hat, ist der Antisemitismus gewalttätiger geworden. Neun Fälle extremer Gewalt verzeichnete RIAS 2022. Dem Verband zufolge sind das potenziell tödliche oder schwere Gewalttaten, wie die versuchten Brandanschläge auf jüdische Gemeinden in Dortmund und Bochum, Schüsse auf ein ehemaliges Rabbinerhaus in Essen. Seit Beginn der Erhebung vor sechs Jahren ist das der Höchststand. Allerdings dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sagt, die weiterhin hohen Zahlen zeigten, "dass Antisemitismus in Deutschland ein Alltagsphänomen ist". Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung noch befeuert: Neue Verschwörungsnarrative ergänzten jahrhundertealte Vorurteile und Mythen. Jüdinnen und Juden wurden auf Demonstrationen und im Internet angegriffen und für den Ausbruch der Pandemie verantwortlich gemacht.
Seit Jahrhunderten gelten jüdische Menschen als Inbegriff des Fremden
Der Jude – das Feindbild, der Sündenbock, der Inbegriff des Fremden, für alles Übel verantwortlich agiert er im Verborgenen, reißt weltweit Geld und Macht an sich. Seit Jahrhunderten hält sich dieses Narrativ. Eingemauert in Klischees schleppen Generationen den Antisemitismus mit und machen ihn zu einem täglichen Phänomen, verharmlosen ihn.
Laut Eva Gruberová richtet sich Antisemitismus nicht immer gegen Jüdinnen und Juden. Auch etwa Pressevertreter seien immer wieder betroffen, würden etwa auf Demos als "Juden" bezeichnet.
Am Rednerpult in der Politik, in Konferenzräumen renommierter Medien, am Tisch bei Familienfeiern bleibt Antisemitismus präsent. Etwa wenn Zeitungen Juden karikiert mit Hakennase als Kraken oder Parasiten darstellten oder wenn im Freundeskreis mit Blick auf die Wohnungssuche von "gierigen Judenmaklern" gesprochen werde, sagt Gruberová. Viele würden Antisemitismus gar nicht als solchen erkennen, wüssten nicht recht, was damit gemeint sei. Im Kern gehe es um Hass, um die Abwertung und Verurteilung von Juden.
Antisemitismus ist in der deutschen Sprache nach wie vor präsent
Die Teilnehmerin, die die Drohungen auf dem Anrufbeantworter erhielt, sagt, sie sei schockiert, wie sehr Antisemitismus Teil der deutschen Sprache sei. Immer wieder falle in den Medien etwa das Wort "Sonderbehandlung" – ein nationalsozialistischer Tarnbegriff für Mord. Oder Politiker sprächen floskelhaft etwa von "jüdischen Mitbürgern". Sie fragt: "Warum sind wir Mitbürger? Wir waren schon immer da."
Info: Wer Opfer oder Zeuge von Antisemitismus wurde, kann sich online unter https://report-antisemitism.de/rias-bayern/ an die RIAS Bayern wenden oder den Vorfall telefonisch melden: 089/122 234 060.