„Drah di ned um“, hat Österreichs oberste Popinstanz Falco in den frühen Achtzigern gesungen. Denn „der Kommissar geht um“, heißt es weiter, und dann wird „er dich anschau’n“. Dieser ins Drogenmilieu transportierte Kindervers hat natürlich nichts mit Venedig zu tun. Aber Falco warnt vor einem zuverlässigen Reflex, den der Venezianer Giorgio da Castelfranco vor 500 Jahren in seiner umwerfend neuen Porträtkunst einkalkuliert hat. Wer sich umdreht, fällt auf und wird wahrgenommen. Die Wirkung ist bis heute ungebrochen, in der Alten Pinakothek geht man seinem jungen Mann sofort auf den Leim, wird von diesem neugierig fragenden Blick gefangen, ja verzaubert.
Und damit kommt sogar der Kommissar ins Spiel. Denn durch den Schulterblick hat sich auch ein kahlköpfiger Pelzträger als Giorgione zu erkennen gegeben. Das Gemälde hing völlig unbeachtet in der Münchner Residenz und geriet erst ins Visier, als durch das Forschungsprojekt zur Super-Schau „Venezia 500“ alles abgeklopft wurde, was mit der Lagunenstadt in Verbindung zu bringen war. Die Rede ist von mehr als 200 Werken, da kann man nicht jedem einzelnen auf den tiefsten Grund gehen. Die Kunsthistorikerin Johanna Pawis war allerdings mächtig angezogen vom Blick eines so bezeichneten „Humanisten“, der mit seinem Schüler auf einem Doppelporträt verewigt ist.
Giorgiones Oeuvre zählt jetzt ein Werk mehr
Was folgte, war eine detektivische Meisterleistung, die durch venezianische und hiesige Archive führte und schließlich mithilfe von Röntgenbildern und Pigmentanalysen eine Sensation bestätigt hat: Dargestellt ist der Universalgelehrte Trifone Gabriele mit seinem Studenten Giovanni Borgherini – und sämtliche Untersuchungsergebnisse sprechen für Giorgione. Derzeit werden ihm 19 Werke zugeschrieben, jetzt sind es 20.
„Man kann das mit der Entdeckung eines Vermeers vergleichen“, sagt Andreas Schumacher, der Kurator und Sammlungsdirektor der Alten Pinakothek. Aktuell werden 37 Vermeers gezählt. Insofern ist ein 20. Giorgione eine Spur aufregender, und man vergisst fast, dass „Venezia 500“ noch ganz andere Geschichten und Innovationen vorführt – durch 15 Werke aus München und rund 70 internationale Leihgaben.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gerät in der Alten Welt vieles durcheinander, und gerade in Venedig, das 1503 den Osmanen unterliegt. Die Entdeckung Amerikas und der Ausbau neuer Handelsrouten nach Indien bedrohen die Vormachtstellung und damit den Wohlstand der Serenissima, deren Bevölkerung von Hungersnöten und der Pest heimgesucht wird. Und doch setzen in nur zwei, drei Jahrzehnten Künstler und Gelehrte zu Höhenflügen an.
Alte Haudegen, melancholisch verträumt
Zahlreiche männliche Porträts dokumentieren den Wandel vom vordergründigen Abbild hin zu einer stärker psychologisch motivierten Erfassung des Menschen. Tizians Sicht auf einen stillen, von der Last seines Amtes müde gewordenen Kaiser Karl V. ist dafür ein spätes eindringliches Beispiel. Und selbst die Haudegen der Republik gefallen sich in melancholisch verträumter Verhaltenheit: Giulio Manfron, dessen Vita von Gewalt und Ausschweifungen dominiert ist, umgreift im Porträt von Paris Bordone (1523) ein Büchlein und blickt geradezu wehmütig ins Ungewisse. Man möchte meinen, er wollte noch heute das Schwert mit der Feder tauschen und sein Leben dem Dichten elegischer Verse widmen.
Wie das Schulterblick-Porträt geht auch diese lyrische Inszenierung vor allem junger Männer auf Giorgione zurück, der ständig Neues ausprobiert. Das fällt nach der Einführung in die venezianische Porträt- und Landschaftsmalerei (mit einer raren Baumstudie Tizians) umso mehr ins Auge. Giorgione verkehrt in Humanistenkreisen, will mit seiner Malerei das verborgene Innere in Farben und Formen fassen und schert sich dabei um keinerlei Konventionen. Jedes seiner rätselhaften Bilder ist ein Experiment. Dass er 1510 völlig verarmt das Zeitliche segnet, deutet auf seine Kompromisslosigkeit.
Da schwingt Erotik mit
Doch genauso ist da eine große Offenheit, nicht zuletzt Albrecht Dürer und dem Norden gegenüber, den Giorgione mehr noch als Giovanni Bellini bis in die gnadenlos realistischen Details durchdringt und mit den idealschönen Maltraditionen seiner Heimat verbindet. Dabei sind gerade die zarten, feminin wirkenden Jünglinge Giorgiones wie der Wiener Knabe mit dem Pfeil gefragt. Malerei kann Begehren auslösen, erst recht in dieser unmissverständlichen Erotisierung.
Bekannter sind freilich die „belle donne“. Vermeintliche Individualitäten, gerne blondiert und tief dekolletiert, können in den meisten Fällen nicht zugeordnet werden. Sind Tizians Dresdner „Dame in Weiß“ oder Palma il Vecchios „Junge Frau im blauen Kleid“ aus Wien nun Brautbilder für den Künftigen, Porträts von Kurtisanen oder Pin-ups der erlesenen Sorte? Man wird diesen Sachverhalt kaum klären können, andererseits besitzen die Damen Strahlkraft. Und zwar so sehr, dass sich auch die Madonnen in zärtlicher Eleganz ihren Jesusknaben zuwenden. Man denke an Bellinis makellos schöne „Maria mit dem Kind“ vor einer imaginierten Landschaft, die in der Ferne, weit hinter den sanften Hügeln des Veneto, die Alpen erahnen lässt.
Der Blick darf schweifen und sich verlieren
Überhaupt sind Landstriche und Natur minutiös erfasst und nicht mehr bloß atmosphärisch dekorative Kulisse. Der Blick darf schweifen, zwischendurch bei einem Eremiten oder anderem biblischen und mythologischen Personal verweilen, um sich erneut in Knospen, Blättern und den unzähligen Blau-Nuancen des Horizonts zu verlieren. Sensibler ist das damals noch einigermaßen intakte Verhältnis von Mensch und Natur kaum zu vermitteln. Dieses malerische Arkadien taugt für die Kontemplation und weist dezent auf die viel späteren Seelenlandschaften der Romantiker. In Zeiten des Umbruchs geht der Blick nach innen und genauso in eine unbestimmte Ferne. Sehnsucht nennt man das, die venezianischen Maler erzählen davon in bald jedem Bild ihrer „sanften Revolution“. Deshalb ist diese Kunst so berührend nah.
Laufzeit „Venezia 500“ ist bis 4. Februar in der Alten Pinakothek in München zu sehen. Der Katalog (Hirmer) kostet 39,90 Euro.