Für Enthusiasten des klassischen Gesangs ist der 11. April 1902 ein Tag für die Geschichtsbücher. Im Mailänder Grand Hotel warten zwei Vertreter der englischen Gramophone Company auf einen Tenor, von dem sie sich viel versprechen. Ein paar Wochen zuvor haben sie ihn an der Scala gehört und die Begeisterung mitverfolgt, die sein Singen beim Publikum entfacht. Nun haben sie im Hotel einen Nebenraum angemietet und darin eine merkwürdige Apparatur aufgestellt, einen Metalltrichter, der akustische Schwingungen auf eine Wachsmatrize überträgt. Zehnmal soll der Tenor, begleitet von einem Pianisten, in diesen Trichter singen. Der Sänger, erinnert sich später einer der beiden Aufnahmeleiter, kam zum verabredeten Termin „wie ein Dandy gekleidet und ein Stöckchen schwingend“. Er singt eine Arie aus Donizettis „Liebestrank“, die Romanze „Una furtiva lagrima“. Rückblickend wird der Aufnahmeleiter über ihn sagen: „He made the gramophone.“ Der Name des Tenors: Enrico Caruso.
Er war nicht der erste gewesen, dessen Stimme durch die neue Technik konserviert wurde. Wohl aber war Caruso derjenige, der die Schallaufzeichnung mit seinem Gesang zu dem machte, was sie seither ist: ein Massenmedium und auch ein industrieller Zweig. Zugleich entstand mit dieser ersten Aufnahme des Tenors im Frühjahr 1902 ein neues Kulturphänomen: Der Sänger-Superstar, dessen Status nicht denkbar ist ohne das Bindeglied der Schallplatte. Mögen sich inzwischen die akustischen Speicher gewandelt haben, vom Schellack bis zum heutigen digitalen Datenpaket, geblieben ist die enge Wechselbeziehung zwischen dem singenden Künstler und dem konservierenden Medium. Caruso gab dem Grammophon die überragende Bedeutung; die Schallaufzeichnung machte Caruso erst zum Mythos.
Toscanini gewährte dem Tenor Caruso ein zweimaliges Dacapo
Vor 150 Jahren, am 25. Februar 1873 in Neapel geboren, entstammte Carusoärmlichen Verhältnissen. Aber er besaß eine schöne Stimme, deren Potenzial früh erkannt wurde. Zwar war der Aufstieg zunächst holperig, doch mit der Jahrhundertwende hatte er es ganz nach oben geschafft. Als Einspringer wurde er im März 1901 an die Mailänder Scala für eine Aufführung von Donizettis „Liebestrank“ verpflichtet. Der Dirigent, der für seine Partiturtreue gefürchtete Arturo Toscanini, gewährte nach einer Arie, was er nur äußerst selten bereit war zu gewähren – dass der Sänger gleich zweimal eine Arie wiederholte. Das Publikum war außer Rand und Band, ein Star war geboren. Die großen internationalen Opernhäuser überschütteten den jungen Neapolitaner in der Folge mit Auftrittsangeboten.
Was macht Carusos Stimme so berückend, dass nicht nur Publikum und Kritik, sondern auch Sangeskolleginnen und -kollegen von ihr schwärmten, ganz zu schweigen von den Komponisten. „Wer hat dich geschickt? Gott?“, soll Puccini Caruso gefragt haben. Für den Wohllaut der Stimme kamen natürliche Fülle und und ein warmes, leicht baritonales Timbre zusammen. In Szene gesetzt von einer Technik, die überragend war und bei aller Geläufigkeit und Elastizität die Stimme den Klang nie verformte. Noch ergiebiger ist es, der Frage nachzugehen, was Carusos Singen eigentlich ausmachte. Es war die nahtlose Verbindung zweier Interpretationsstile: des noch auf sängerische Formelhaftigkeit setzenden Belcanto des italienisch-romantischen Zeitalters eines Bellini, Donizetti, mittleren Verdi auf der einen Seite, auf der anderen jedoch der vokalen Ausdruckskunst des Verismo, wie sie sich in den Opern von Mascagni oder Leoncavallo manifestierte.
Mit der Stimme modellieren
Ein berühmtes Beispiel für Carusos Stilistik ist „Vesti la giubba“ aus Leoncavallos „Pagliacci“, die Arie des Canio, der nach außen den Komödianten geben muss, wiewohl ihm inwendig ganz anders zumute ist. Wie Caruso den tatsächlichen psychischen Zustand der Figur sacht herausmodelliert, dies nie mit aufgesetzten Ausdrucksfloskeln, sondern immer mit genuin sängerischen Mitteln tut, bis hin zum delikat eingebundenen Schluchzer, das ist sängerische Rollendarstellung auf allerhöchstem Niveau und zeitlos modellhaft – erlebbar gemacht durch die hinterlassenen Aufnahmen. Carusos„Vesti la giubba“ (1904) wurde der erste Millionenerfolg der Schallplattengeschichte.
1903 ging der Tenor nach New York an die Metropolitan Opera, wo er in den folgenden 17 Jahren mehr als 600 Aufführungen übernahm. Das hielt ihn nicht von internationalen Reisen und Gastspielen ab – längst war er, auch dank seiner Platten, zu einem Weltstar geworden, der Millionen verdiente. Doch für diese Karriere war auch ein beträchtlicher Preis zu zahlen. Seine Beziehung zur Sängerin Ada Giachetti, mit der er zusammenlebte und zwei Kinder hatte, zerbrach (später heiratete er eine reiche Amerikanerin), die Mafia heftete sich mit Erpressungsversuchen an seine Fersen.
Vor allem aber machte ihm die Gesundheit zusehends zu schaffen mit schwerer Erschöpfung, Kreislaufzusammenbrüchen und permanenten Kopfschmerzen. „Hätte ich den Preis des Ruhms gekannt“, stöhnte er, „wäre ich gern Mitglied des Chors geworden“.
Am Ende singt Caruso mit Blut auf den Lippen
Ende des Jahres 1920 verschlechtert sich seine Gesundheit dramatisch, während einer Aufführung tritt ihm Blut über die Lippen, doch er singt weiter. An Weihnachten tritt er letztmals auf, künstlerisch nach wie vor in bestechender Form. Der Tenor kehrt zurück in seine Heimat, scheint sich auch zu erholen, doch dann stirbt er Anfang August 1921 in Neapel an einer Bauchfellentzündung. Er ist 47 Jahre alt.
Caruso: Der Name ist Synonym geworden für Tenorgesang, für Stimmschönheit und Gestaltungskultur; kein anderer steht wie er für die männlich hohe Stimme, kein Domingo und auch kein Pavarotti. Dass es sich so verhält seit mehr als einem Jahrhundert, das wäre nicht möglich ohne das Erbe von Caruso: Jene gut 260 Aufnahmen, die der Tenor im Laufe von nicht mal zwei Jahrzehnten eingesungen hat und die sich seither weit über 60 Millionen Mal verkauft haben. He made the gramophone: Das wird Enrico Caruso, so einzigartig, wie sein Gesang via Platte, CD oder Stream aus dem Lautsprecher strömt, auch weiterhin tun.