
Es ist ja kein Geheimnis: Der Deutsche an sich hängt an seinem Auto. Trotz neuer Statussymbole, trotz Smartphone und Tablet ist gerade die Beziehung zwischen Männern und ihrem Fahrzeug eine ungewöhnlich intensive. Jeder Zehnte gibt ihm einen Namen, drei Viertel könnten angeblich gar nicht ohne leben. Ja, bei manchen gliedert das Auto auch das Leben. Ganz nach dem Motto: „Schatz, weißt du noch damals, als ich den Käfer fuhr? Und später dann den BMW?“
Aber mal anders herum gefragt: Was macht eigentlich so ein Auto im Laufe der Jahre mit? Und wie lange dauert ein Autoleben eigentlich? Die Statistik sagt: Nach etwa 14 Jahren landet der Durchschnittswagen auf dem Schrott. Andere Autos scheinen indes für die Ewigkeit bestimmt. Weil sie fahren und fahren.
Wie das Fahrzeug, das auf einem Firmenparkplatz in Bayern steht: Mercedes 200 Diesel, Werksbezeichnung W123, die Mutter der Mittelklasse. Ein Auto – groß, schwer, mit viel Chrom und einem Innenraum, der nach altem, deutschem Wohnzimmer aussieht.
Gut, die braunen Ledersitze sind an einigen Stellen abgewetzt. Der Lack, Farbe Hell-Elfenbein, hat ein wenig Glanz eingebüßt. Doch sonst ist die Limousine gut gepflegt. Gebaut wurde sie im Juni 1981, zugelassen erstmals am 3. Mai 1982. Leistung: 60 PS. Höchstgeschwindigkeit: 130 Stundenkilometer. Kostenpunkt: 18 870 Mark. Damals ein stolzer Preis.
Der Fahrzeugbrief ist das Gedächtnis des Autos. In dem Dokument finden sich Angaben über Vorbesitzer und Zulassungsstellen. Fakten sind mit deutscher Gründlichkeit festgehalten. Fünfmal ist der Wagen verkauft worden, steht da. Aber lässt sich das Leben des Mercedes wieder zusammenfügen? Der aktuelle Besitzer ist anhand des Kennzeichens schnell gefunden: Björn Grabinski aus Scheuring bei Landsberg. Der junge Mann, selbst Baujahr 1992, war noch lange nicht geboren, als sein Auto in Stuttgart-Sindelfingen vom Band rollte. Seit er denken kann, fährt er diese Marke und dieses Modell. Eine Tradition, die er vom Vater übernommen hat. Der ist gebürtiger Pole und Fan der Marke mit einem Stern. Zufällig habe sein Vater das Fahrzeug in einer Zeitungsanzeige entdeckt, erzählt Grabinski. Zuvor sei es viele Jahre abgemeldet gewesen.
Unter Liebhabern gilt der W123 als „der letzte echte Mercedes“, ein Auto, dem die Träume der Bundesrepublik noch ins Blech gepresst waren. Heute spricht man von der E-Klasse. Armaturenbrett und Mittelkonsole wurden ab September 1979 in der Edelholzausführung „Zebrano“ verbaut. Die repräsentative Form der Karosserie und der Mythos der Unzerstörbarkeit faszinieren Grabinski. „Wenn ich mit meinem Auto über die Landstraßen fahre, ist das fast, als würde ich mit einem Schiff segeln“, sagt er. Für den Asphaltkapitän ist Autofahren wie für andere Gedichte lesen. Da taucht er in eine eigene Welt ein, hört seine Musik, hängt seinen Träumen nach.
Grabinski kann Geschichten von seinem Auto erzählen. Er hat auf dem Handy unzählige Bilder von seinen Abenteuern mit der Limousine gespeichert. Zweimal die Woche putzt er sie. Das tut man nur, wenn das Auto mehr ist als ein Gefährt, das einen von A nach B bringt.
Zwischen November 1975 bis Januar 1986 liefen fast 2,7 Millionen Exemplare des W123 vom Band. Viele davon wurden Taxis. Auch Grabinskis Auto. Der Fahrzeugbrief weist eine gewisse Auguste Eierle-Metzger aus Schwabmünchen im Kreis Augsburg als Erstbesitzerin aus. Die Nachforschungen ergeben: Die Frau ist inzwischen gestorben. Und sie hatte nicht einmal einen Führerschein. Ihre Nichte Carmen Ludwig, gebürtige Eierle, berichtet, das Auto sei anfangs als Taxi verwendet worden. Der Onkel, Karl Metzger, habe damit sein Geld verdient. Warum es nicht auf ihn selbst zugelassen war? „Keine Ahnung“, sagt die Nichte.
Sie erinnert sich aber noch daran, dass Tante und Onkel Urlaubsfahrten mit dem Auto gemacht hätten. Und die 39-Jährige weiß noch von einem Foto, auf dem sie mit der Schultüte in der Hand neben dem Auto stand. Anfang der 80er Jahre muss das gewesen sein. Viel mehr ist nicht im Gedächtnis geblieben.
Carmen Ludwig kramt dann doch noch ein wenig in der Vergangenheit. Und ihr fällt ein, dass sich die Tante nach dem Tod des Mannes öfter mal von ihrem Vater in dem Benz chauffieren hat lassen. Warum Auguste Eierle-Metzger ihn nie verkaufte, wenn sie ihn schon nicht selbst fahren konnte? Die Nichte hat das nie interessiert.
Fest steht: Ende der 90er Jahre starb die Tante. Und noch etwas lässt sich rekonstruieren: Das Auto ist für ein Taxi verhältnismäßig wenig gefahren worden. Denn der heutige Kilometerstand des noch immer ersten Motors lag am 2. Juni 2016 exakt bei 250 000 Kilometern. Grabinski hat es mit 216 000 gekauft, ein Klacks für einen 200er Diesel.
Das Auto jedenfalls geht nach dem Tod der alten Dame in die Hände ihres Bruders Günther über. Wahrscheinlich hat er es geerbt. Er lässt es am 27. Juli 1998 in Augsburg zu. Was er damit machte? Niemand weiß es, auch Carmen Ludwig nicht. Ihr Vater stirbt wenig später, sie erbt den Benz. Am 14. März 2000 lässt sie sich beim Landratsamt Augsburg als neue Eigentümerin des Wagens eintragen. „Ich hatte ihn aber nicht lang“, fügt sie hinzu.
Der behäbige Diesel ist nicht das, was sich die junge Frau vorstellt. „Der Mercedes war mir einfach zu langsam.“ Sie tauscht ihn gegen einen flotten 3er-BMW. Es wird ein Abschied ohne Tränen.
Gut möglich, dass der Schwabe dann eine weite Reise angetreten hat. Denn ein Bosnier übernimmt den Mercedes im Jahr 2001. Für wenig Geld. Carmen Ludwig glaubt sich noch zu erinnern: „Der Typ wollte den Mercedes der Tante eigentlich ins Ausland bringen und dort verkaufen.“
Das könnte sein. Der Käufername, der aus Datenschutzgründen an dieser Stelle nicht genannt wird, deutet darauf hin, dass die Fahrt auf den Balkan, möglicherweise in den Kosovo, gegangen ist. Zumindest findet sich dort eine Adresse samt Telefonnummer zu diesem Namen. Eine Nachricht auf der Mailbox bleibt allerdings ohne Erfolg. Der Mann ruft nie zurück.
Genauso schwierig wird es beim nächsten Eigentümer. Das Autoleben gleicht in dieser Phase dem dunklen Mittelalter. Es findet sich keine Adresse mehr, unter der man den damaligen Käufer kontaktieren könnte. Aus dem Fahrzeugbrief geht nur hervor: Es ist ein Augsburger, der den W123 ersteht. Bekannt sind Name und das Geburtsdatum des heute 60-Jährigen. Am 21. Februar 2005 meldet er den Mercedes an, am 18. November legt ihn die Kfz-Stelle der Stadt Augsburg still.
Wahrscheinlich schlummert das Fahrzeug in einer Garage des Privatmannes fast zehn Jahre vor sich hin, bis Grabinskis Vater es entdeckt. Er weiß nur noch, dass der Vorbesitzer es ursprünglich als erstes Auto für die Tochter aufbewahrt hat. Doch sie wollte, ähnlich wie die Vorbesitzerin, zum 18. Geburtstag keinen 60-PS-Benz, sondern ein sportliches Fahrzeug. 1800 Euro zahlte Grabinski für den W123.
Nun ist es nicht so, als wäre der 23-Jährige der Prinz, der das Auto wachgeküsst hat. Denn die ewige Standzeit hat tückische Folgen. Schon bei der Heimfahrt reißt der Keilriemen, kurz darauf bricht an der Lichtmaschine ein Teil ab. „Das geht gut los“, sagt sich Grabinski. Entmutigen lässt er sich davon nicht. Stattdessen dokumentiert er all die Zwischenfälle mit seinem Handy. Was er da aufzählt, klingt nach Einträgen aus einem Havarie-Logbuch.
12. Juli: Endtopf vom Auspuff brach auf der Autobahn 8 auf Höhe Dachau ab. Fuhr zur nächsten Raststätte. Der Auspuff hing nur mehr an den Gummis. Schleifte ihn einen Kilometer mit zur nächsten Ausfahrt.
31. Juli, A 8 Höhe Odelzhausen, 12.44 Uhr: Grabinski wollte gerade einen Lkw überholen, als es knallt. Hatte glücklicherweise beide Hände am Steuer. Kam ins Rutschen, zuerst nach links, dann nach rechts. Konnte dann das Fahrzeug abfangen.
„Da stand ich voll unter Schock“, sagt Grabinski. Ein Reifen war geplatzt. Der Vorfall hätte das Aus für den Benz und seinen Fahrer bedeuten können.
13. August: Neue Sommerreifen für 300 Euro gekauft und montiert.
19. August: Wieder die A 8. Diesmal brach der komplette Auspuff ab. Heimfahrt nach der Schicht vom Arbeitsplatz aus Augsburg. Habe kompletten Auspuff rausgezogen und ins Auto verfrachtet.
Grabinski könnte über die Monate mit seinem Auto einen Roman schreiben. Doch inzwischen läuft es besser zwischen ihm und seinem W123. „Seit dem 22. August fährt er problemlos“, sagt er. Das ist wichtig, wo der 23-Jährige täglich mit dem Oldtimer von Scheuring nach Augsburg pendelt – mehr als 30 Kilometer einfach. Und er hat sich sogar längere Strecken zugetraut, nach Köln, zur Familie seiner Freundin.
35 Jahre ist der Mercedes 200 Diesel jetzt alt geworden. Fast vier Mal so alt wie das durchschnittliche Fahrzeug, das auf deutschen Straßen unterwegs ist. Doch Grabinski verschwendet keinen Gedanken an den Schrottplatz. Er hat noch viel vor mit seinem Benz. Er will ihn neu lackieren – metallicbraun, wie sein erstes Auto. Der Motor soll überholt und der Boden neu geschweißt werden. „Ich werde ihn fahren, bis es nicht mehr geht“, sagt er. Und viele Geschichten erzählen. Von einen langen, bewegten Autoleben.
Was die Deutschen und ihre Autos verbindet
Bestand: Aktuell sind in Deutschland 45,1 Millionen Autos gemeldet – ein Plus von 1,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Bayern kommen auf 1000 Einwohner 595 Fahrzeuge, in Berlin sind es nur 340. Haushalte: 77 Prozent der Haushalte in Deutschland verfügen über mindestens ein Auto. Damit gibt es deutlich mehr Fahrräder – nämlich in 81 Prozent der Haushalte. Dennoch ist das Auto das wichtigste Verkehrsmittel der Deutschen: Nur neun Prozent aller Pendler sind täglich mit dem Fahrrad unterwegs, zwei Drittel mit dem Auto. Alter: Die Fahrzeuge auf deutschen Straßen werden immer älter. Das durchschnittliche Alter liegt derzeit bei 9,2 Jahren (2015: 9,0 Jahre). Am vergleichsweise jüngsten sind die Autos in Hamburg, am ältesten in Brandenburg. Und: Jeder hundertste Pkw ist bereits älter als 30 Jahre. Fahrleistung: Die Hälfte der Deutschen fährt mit dem Auto zwischen 5000 und 13 000 Kilometer im Jahr. Sieben Prozent fahren über 30 000 Kilometer, drei Prozent weniger als 5000 Kilometer. Farbe: Die beliebteste Autofarbe ist Grau. 28,7 Prozent der Fahrzeuge, die 2015 neu angemeldet wurden, waren grau oder silbern. Knapp dahinter lag Schwarz mit 27,3 Prozent, gefolgt von Weiß mit 19,4 Prozent.
Mitte der 90er Jahre waren noch zwei Drittel der Autos blau, rot, grün oder gelb. Heute sind es nur noch 28,8 Prozent, wie das Kraftfahrtbundesamt meldet. AZ/SOK