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Kommentar
Auf den Palmer gebracht: Wie irrsinnig die Debattenkultur in diesem Land ist!
Der Eklat um Boris Palmer zeigt vor allem eines: Man schaukelt sich hoch – bis zum Knall. Unbeschadet kommt keiner raus – auch nicht die vermeintlich Guten.
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Foto: Bernd Weißbrod, dpa (Archivbild) | Will sich jetzt eine Auszeit nehmen: Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen.
Christian Imminger
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:07 Uhr

Er hat es also wieder getan. Das „N-Wort“ gesagt, wobei das jetzt so zu schreiben eigentlich einigermaßen widersinnig ist, weil das „N-Wort“ wurde ja eben genau nicht gesagt, sonst gäbe es ja keinen Skandal. Boris Palmer hat also „Neger“ gesagt. Und nicht nur das, doch dazu später mehr.

Boris Palmer: Sein letzter Sprechakt war vorerst einer zu viel

Der Tübinger Oberbürgermeister ist bekanntlich nicht nur diesbezüglich bereits in der Vergangenheit aufgefallen, und über die Gründe kann man nur spekulieren. Entweder, um damit äußerst erfolgreich die Ökonomie einer der Erregung folgenden Aufmerksamkeitsgesellschaft zu bewirtschaften, also: Als Grüner mit antigrüner Sprache und bisweilen auch Standpunkten bei Lanz eingeladen, am Stammtisch gefeiert und gleichzeitig auf der anderen Seite umso mehr öffentlich verteufelt zu werden – was wiederum und oh Wunder nur noch mehr Öffentlichkeit und Talkshoweinladungen mit sich bringt.

Oder weil er mit einer Art Reizdarm-Syndrom wider den woken, politisch korrekten Zeitgeist reagiert, oder vielleicht auch, weil einfach tatsächlich so denkt, wie er zuletzt immer öfter spricht. So genau weiß man das bei den Menschen halt nicht. Sein letzter Sprechakt war nun allerdings vorerst einer zu viel.

Einer allgemeiner Grundsatz: Relativierung des Holocaust geht gar nicht

Deswegen noch einmal der Reihe nach: Palmer wird zu einer Veranstaltung zum Thema Migration an der Frankfurter Universität eingeladen, schon im Vorfeld und wie so oft im universitären Umfeld gibt es Proteste und eine Demonstration gegen Rassismus, rechts, unliebsame Redner und in diesem Fall also Palmer. Der lässt sich darauf ein, sagt mehrmals „Neger“, worauf auf der Gegenseite ein anderes N-Wort, nämlich „Nazi“ fällt. Bis hierhin (leider) fast schon business as usual also.

Auf die „Nazis raus“-Rufe entgegnet Palmer dann aber: „Ich habe ein Wort gesagt, und ihr sagt ,Nazi’ zu mir. Das ist nichts anderes als der Judenstern“ – und da war sie, die absolute Eskalation.

Denn es gibt in diesem Land, in dem die Maßstäbe zunehmend in Richtung subjektivem Betroffenheits-Bingo verrutscht sind, immerhin noch ein paar wenige, objektivierbare und allgemeine Grundsätze. Einer davon: Die Relativierung des Holocaust geht gar nicht.

Debattenkultur in Deutschland: Man schaukelt sich hoch – bis zum Knall

Das hat auch Boris Palmer sofort eingesehen, sich entschuldigt, ist endgültig aus der grünen Partei ausgetreten und hat eine Auszeit angekündigt. Und dieser Schritt, wenn nicht gar Rücktritt, musste nach Überschreiten der roten Linie zwangsläufig erfolgen, da gibt es kein Vertun. Und doch sagt der Vorfall beziehungsweise Fall eines eigentlich klugen und etwa gerade klimapolitisch erfolgreichen Kommunalpolitikers einiges aus über die fast schon prototypische Kultur der Auseinandersetzung hierzulande – Verständigung von beiden Seiten und von vorneherein ausgeschlossen, im Gegenteil: Man schaukelt sich hoch, provoziert sich gegenseitig. Bis zum Knall.

Mag Palmer, dem schon immer eine gehörige Sturheit nachgesagt wurde, aus purem Trotz und völlig unnötig an einem in der Alltagssprache zu Recht umstrittenen Begriff festgehalten haben, so ist diese Sturheit, diese Unhinterfragbarkeit der eigenen Position mittlerweile fast überall und in allen möglichen Gruppierungen anzutreffen. Und zwar egal, um was es geht, egal, welche Positionen vertreten werden, links, rechts, ob Klima, Krieg, Corona, Halteverbot. Jeder wähnt sich im Recht, mancher als „Opfer“, andere wiederum als Stellvertreter der als Betroffenen immer recht habenden „Opfer“ – jeweiliger Alleinvertretungsanspruch und Unversöhnlichkeit im Ton inklusive.

Für mehr Offenheit: Unsere Gesellschaft sollte gesprächsfähig bleiben

Aus dieser Unversöhnlichkeit heraus sehen sich jetzt jedenfalls viele bestätigt, als moralische Sieger. Und auch viele seiner einstigen Parteifreunde nahmen den Rückzug Palmers mit mindestens klandestiner Genugtuung auf. Dass Bundesgeschäftsführerin Emily Büning in einem entsprechenden Tweet aber von „Jüdi*nnen“ schreibt, zeigt vielleicht in nuce, welch absurde Volten die ganze gegenwärtige gesellschaftliche Malaise mitunter schlagen kann: Im Skandal um den Judenstern verpasst eine Grünen-Politikerin den Juden einen Stern. Natürlich den gut gemeinten, politisch korrekten Gender-Stern, aber besonders sprachsensibel, den Kontext hinterfragend scheint mir das auch nicht gerade zu sein. Es ist alles irgendwie ein Elend. 

Palmer will sich jetzt professionelle Hilfe suchen, und es verbietet sich, darüber zu spekulieren. Angemerkt sei aber doch, dass man (Selbst-)Pathologisierung in einem solchen Zusammenhang eigentlich aus anderen politischen Systemen kennt. Um es noch mal zu sagen: Das ist keine Verteidigung von Boris Palmer, seinen Worten. Es ist vielmehr ein Plädoyer für eine offene, freiheitliche Gesellschaft, die untereinander zumindest zum Großteil stets gesprächsfähig bleiben sollte, stattdessen mittlerweile aber wahrlich selbst professionelle Hilfe nötig hat. 

Und dabei muss nicht nur eine Seite auf die Couch.

 
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