Pro: Warum soll am Kochtopf verpönt sein, was an der Backform die Regel bedeutet?
Vertrauen Sie „Mathias56“! Sein Künstlername klingt teutonisch – doch er kennt das weltköstlichste Rezept für ein Risotto in originalitalienischer Manier. Und dieser Mann war sich nicht zu fein, sein Wissen mit der Welt zu teilen, als anonymes Mitglied der Rezept-Gemeinde von www.chefkoch.de. Schlotzig, cremig, höchste Genussstufe: Wie das gelingt? Mit Treue zu diesem Rezept. Bis ins Gramm.
Zugegeben, man muss sie lieben, diese Hobby-Horst-Lichters mit ihrer Bisschen-hiervon-davon-Magie. Am heimischen Suppenkessel rühren sie, geben bei, raunen und nuscheln von ungefährsten Zutaten und Bauchgefühlmengen. Diese Impro-Show hat ja ihren Reiz und nachgesalzen wird immer.
Aber schon Paul Bocuse wusste, dass selbst die herdhitzigsten Köche nur mit Wasser kochen: „Wenn ein Architekt einen Fehler macht, lässt er Efeu darüber wachsen. Wenn ein Arzt einen Fehler macht, lässt er Erde darauf schütten. Wenn ein Koch einen Fehler macht, gießt er ein wenig Soße darüber und sagt, dies sei ein neues Rezept.“ Man lerne: Ein wahrlich gutes Gericht braucht ein stabiles Fundament. Würden Sie einen Architekten Ihr Haus bauen lassen, der protzt, er sei ein doller Improvisateur? Und warum soll am Kochtopf völlig verpönt sein, was an der Backform die Regel bedeutet?
Schmeckt das Rezept im Resultat, darf man sich das schriftlich geben lassen. Jeder Merkzettel ein Dienst am Nachahmer, an der Nachköchin, denn lesen, wiegen, messen, das ist ein mathematisches Vergnügen mit Garantie: Dank Rezeptbuch hat man den Schuldigen gleich am Kochhemd-Kragen, falls das Gericht trotzdem ungenießbar gerät. Henssler, Lafer, sowieso Herr Schuhbeck – schuld ist nicht der Amateurkoch, der die Zutat exakt abwiegt. (Veronika Lintner)
Contra: Beim Ausprobieren lernt man, was zueinander passt
Man nehme eine steile These, dazu drei starke Argumente dafür. Wenn einem gerade nur zwei einfallen, kein Grund zur Panik, dann kann man wahlweise auch erst einmal das stärkste Gegenargument entkräften. Fertig ist der Kommentar aus dem Journalisten-Baukasten. Aber mal ehrlich, schreiben nach Rezept kann schnell so langweilig werden wie das Kochen nach dem Kochbuch. Also weg mit den Vorgaben und Leitplanken, weg mit den Ideen und Ratschlägen anderer – wenigstens in der Küche.
Es mag viele gute Gründe geben, sich ans Rezept zu halten, eines vermittelt es einem so gut wie nie: das Verständnis dafür, was man gerade miteinander kombiniert. Auszuprobieren, vielleicht auch mal danebenzuliegen, hilft ungemein zu lernen, was zueinander passt.
Spätestens, wenn man das zweite oder – sagen wir – dritte Mal das Gleiche genau nach Rezept zubereitet, setzt die Gewöhnung ein. Beim Kochen, aber auch beim Essen. Das ist der Punkt, an dem es langsam fad wird und man sich dabei ertappen kann, plötzlich wieder die Kommentare in der Zeitung nebenher zu lesen, statt dem neuen Essen hinterherzuspüren.
Das wird denen, die in der Küche improvisieren, das eine Mal völlig frei, das andere Mal ruhig auch mit einem Rezept als Grundlage, nie passieren. Jedes Gericht wird zu etwas Einmaligem – nicht wiederholbar, man misst und schreibt ja nicht mit. Was dann gerade die Gerichte, die besonders geworden sind, vielleicht sogar verrückt anders als vieles sonst, zu unerwarteten Festmahlen macht: ein Essen, das alle Aufmerksamkeit verlangt, das alle Sinne satt macht, das das Allzubekannte neu entdecken lässt. (Richard Mayr)