Jetzt ist es also ein Ding unter Frauen. Morgens vor dem Schrank stehen und sich die Frage stellen: "Was zieh’ ich an?" Socken, Hose, T-Shirt herauskramen, weiß oder blau, gestreift oder gepunktet. Und den BH darunter? Einfach weglassen. Der No-Bra-Trend zeigt sich diesen Sommer, auf den Straßen, den Laufstegen, in den sozialen Medien.
Unter Tops und Shirts von Frauen bewegt sich mehr, als die Gesellschaft lange zu sehen gewohnt war. Auch im nahenden Herbst wird der BH wohl nicht wieder angezogen, nur wird es weniger auffallen, wenn sich mit Pullover und Jacken mehrere Schichten Stoff über die Nippel legen. So weit, so befreiend. Stellt sich die Frage: Warum muss es überhaupt ein Trend sein? Warum ist es der Gesellschaft nicht gleichgültig, ob Frau etwas drunter trägt? Warum sorgen sichtbare Nippel immer noch für Wirbel?
No-Bra-Trend: Gerade ist es in Mode, keinen BH zu tragen
Wo doch Frauen schon vor Jahrzehnten blankzogen. Denn der No-Bra-Trend ist eng mit Emanzipation und der Frauenrechtsbewegung Ende der 1960er Jahre verknüpft. Zur Wahl der Miss America 1968 protestierten Feministinnen, in dem sie symbolisch Produkte für Frauen in eine Mülltonne warfen: Haarspray, Make-up – und Büstenhalter.
Eine Ikone ohne BH war die britisch-französische Schauspielerin und Sängerin Jane Birkin, die diesen Juli verstorben ist. Ein berühmtes Foto, auf dem sich ihre Brüste unter dem dünnen Stoffkleid ganz deutlich und natürlich abzeichnen, war auf einer Filmpremiere 1969 entstanden. Später erklärte Birkin, dass das dem Blitzeffekt des Fotografierens geschuldet sei: "Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich keinen Schlüpfer angezogen."
Normalisiert hat sich der Anblick haltloser Brüste und Nippel unterm T-Shirt bis heute nicht, doch immer mehr Frauen rebellieren dagegen. Prominente Vorbilder wie Hailey Bieber, Miley Cyrus oder Bella und Gigi Hadid lassen regelmäßig den BH weg. Auch soziale Medien wie TikTok und Instagram sind voll von Fotos und Videos, in denen Frauen demonstrativ zeigen: Ihnen ist egal, ob jemand schief schaut – egal, ob in der Schule, an der Uni, in der Arbeit, beim Einkaufen oder beim Feiern.
Vielleicht haben viele Frauen mit Pandemie und Homeoffice die BH-losigkeit für sich entdeckt. Als niemand hinschaute, wie Frau am heimischen Schreibtisch sitzt. Als es genügte, sich für die Videoschalte schnell eine Bluse überzustreifen. Die Kamera oben am Bildschirm ließ sich so ausrichten, dass Kolleginnen und Kollegen das Gesicht sahen, höchstens noch Hals und Schultern, aber nicht Brust und Nippel, die sich darunter abzeichneten. Ohne BH zu Hause arbeiten, geht ganz leicht – und schnell hatte Frau sich akklimatisiert und den No-Bra-Trend in die Öffentlichkeit getragen.
Denn mal ehrlich: Oft hat das Tragen eines BHs einzig und allein gesellschaftliche und optische, keine stützende Funktion. So ein BH kann absolut unbequem sein, er drückt, quetscht, zwickt und rutscht. Für viele Frauen ist es das schönste Gefühl der Welt, nach einem langen Tag nach Hause zu kommen und den BH auszuziehen. Warum also nicht gleich den BH ganz weglassen und alle damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen abstreifen?
Immer mehr Frauen verzichten auf das Tragen eines BHs
Aber nicht falsch verstehen. Für die einen mag es befreiend sein, den BH wegzulassen. Für andere bietet er eine Entlastung. Die einen fühlen sich wohler ohne, die anderen mit. Die BH-Frage ist auch immer situationsgebunden. Zum Joggen oder fürs Training, ist ein Sport-BH durchaus bequem. Und er kann auch Rückenschmerzen vorbeugen, wenn er gut sitzt und die Brust schwer ist.
Im Grunde geht es nicht um ganz oder gar nicht. Oder darum, ob der BH nun gerade im Trend liegt oder nicht. Die (Nicht)-Trägerin sollte sich wohlfühlen und jeden Tag aufs Neue entscheiden dürfen: "Nehme ich heute den roten oder fliederfarbenen Pullover, trage ich heute lieber Jeans oder Stoffhose, ziehe ich einen BH an oder nicht?"
Und die Mitmenschen? Hat das nicht zu interessieren! Wer hat schon das Recht, sich über Frauen zu beschweren, die entscheiden, keine BHs mehr zu tragen? Ärgern könnte es höchstens die Modehersteller, die sich auf Unterwäsche spezialisiert haben.