Ist es nun endlich so weit? Kann das, was doch so lange schon fehlt, nun endlich Einzug halten in die deutsche Politik, da sich mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht ein Verein, aus dem eine Partei werden soll, dafür im Titel schon als zuständig erklärt hat? "BSW - für Vernunft und Gerechtigkeit."
Vernunft also! Die Gerechtigkeit, die sich dazugesellt, ist da im Vergleich schon ziemlich abgegriffen, traditionell von SPD und Linken, aber wohl als letzte Referenz zur ursprünglichen Herkunft von Wagenknecht und Konsorten aufgeführt. Zur Vernunft! Klingt doch gut, klingt doch notwendig. Aber was heißt das eigentlich?
Für die Freiheit gegen die Corona-Maßnahmen. Für die Vernunft gegen die Grünen?
Große Worte werden bei politischen Bewegungen, und sei es bei solchen auf der Straße, ja gerne vor sich her getragen. Wie die Freiheit, die vor gar nicht so langer Zeit vermeintlich und final gerettet werden musste in diesem Land angesichts einer dunkelst dräuenden, durch die Corona-Maßnahmen sich einschleichenden Diktatur. Die dann nämlich irgendwie heimlich installiert und jedenfalls heimtückisch auf Dauer bleiben sollte. Die bloß nie wurde, nicht war, nicht geblieben ist. Dank der Freiheitskämpfenden, die sich schon mal fühlten wie dereinst die der Weißen Rose, ganz gewiss. Nun also zur Vernunft – denn es droht die blind verheerende Herrschaft der politischen Ideologie und durch diese eine solche Verheerung dieses Landes, dass es in zehn Jahren nicht wiederzuerkennen sei. Mahnte Frau Wagenknecht.
Tatsächlich gilt die Vernunft klassisch als eine Instanz, die den Menschen aus einer Art Chaos retten kann. 240 Jahre ist es bald her, dass im Deutschland der Dichter und Denker ein gewisser Immanuel Kant epochemachend davon schrieb. Das Chaos wird bei ihm dadurch ausgelöst, dass der Mensch ein Sinnenwesen ist, das Bedürfnisse hat, nach deren Erfüllung ihn verlangt – und so vor allem immer im Eigeninteresse auf die Welt und seine Umwelt blickt. Daraus allein erheben kann den Menschen, wenn er die ihn aus allen anderen Wesen heraushebende Begabung zu verwirklichen versucht, die: zur Vernunft! Der Satz ist berühmt: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Er heißt, der Mensch kann im höheren Sinne das richtige Handeln und damit das Gute erkennen. Dann doch los, Frau Wagenknecht, „sapere aude!“, wie der olle Kant forderte: Habe sie den programmatischen Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen – Aufklärung heißt auf Englisch „Enlightenment“, was nicht zufällig nach Erleuchtung klingt: eine Vernunftsreligion geradezu.
Zwischen gesundem Menschenverstand und Machtkalkül
Zwei Probleme bloß. 1. (klassisch) Wie erkennt man, dass jemand gemäß der Vernunft handelt? 2. (modern) Der Glaube an die Vernunft wie an die Begabung des Menschen ist etwas angekränkelt.
Zu 1.: Auch auf der Seite, die von der neuen Sahra'schen Vernunftsbewegung als die der blinden Ideologen identifiziert ist, bei den Grünen also, lassen sich Spuren einer nicht bloß subjektiven Macht- und Bedürfnisbefriedigung erkennen. Sie wissen schon, Klimawandel, Wissenschaft, gesellschaftliche Transformation und so. Und es gibt, da treffen sich die Kontrahenten nicht von ungefähr gerade auch bei den Grünen Mitgliedern, die hier von notwendigem Handeln qua Vernunft sprechen. Liegt es also doch nur wieder im Auge des Betrachters, des jeweils Wählenden, was da nun dem gesunden Menschenverstand entspricht und was demnach also nach politischer Repräsentation verlangt? Dann stieße hier halt bloß wieder eine „Ideologie“ der für die Einheimischen stabilen und gerechten Heimat auf die des zu rettenden Planeten. Vielleicht hieße „Zur Vernunft!“ da ja geradezu koalitionär: Die Gegenwart intakter Nationalstaaten ist notwendig für die nicht weniger notwendige Rettung der Zukunft?
Wo die Vernunft scheitert – und wie sie trotzdem nützen kann
Zu 2.: Im 20. Jahrhundert ist der Mensch der großen Erzählung der Vernunft immer wieder „auf den Leim gegangen“, wie es so schön im aktuellen Buch „Maniac“ von Benjamin Labatut heißt. Er schildert darin, wie die klügsten Menschen der Welt ihr Wissen zusammenbrachten und bis dahin Undenkbares leisteten, um etwas ganz Neues zu schaffen: die Atombombe. Und dann die noch viel zerstörerischere Wasserstoffbombe. Denn die Vernunft gebot doch, diese vor den Deutschen zu haben. Und fortan erhielt sich so die Welt am Rande des Abgrunds in einer Balance der gegenseitigen – eine Anwendung der Spieltheorie zur Durchdringung der Logik des menschlichen Verhaltens. Was auch im Kleinen passiert, wird hier im Größten offenkundig: Die vermeintliche Vernunft war zum rationalen Kalkül verkommen. Das Denken der Vernunftbegabten erwägt die Effizienz von Mitteln zum Erreichen eines als erstrebenswert erklärten Ziels. Und ordnet ein Gemeinwesen in der Planwirtschaft, nicht eben freiheitlich, aber doch allen zugutekommend? Und erteilt aus lauter Vernunft womöglich an Grenzen auch Schießbefehle. Ist das, liebe Sahra, nun DDR gewesen oder Deutschland in Zeiten von (nicht so wichtigen?) Nachhaltigkeitsfragen und (viel drängenderen?) Migrationsproblemen? Behauptet hier etwas, Vernunft zu sein, was doch nur wieder rationales Kalkül zur Bedürfnisbefriedigung des Zielpublikums ist, zum Zweck des eigenen Bedeutungsgewinns? Dann wäre es eben doch bloß wieder Politik …
Eines immerhin kann die Vernunft im ursprünglich gemeinten Sinne noch immer: ideologische Lackmustests liefern. Einer etwa stammt vom späten Nachfolger Kants, dem Philosophen John Rawls, er betrifft die andere Frage des Wagenknecht-Vereins, die Gerechtigkeit. Wofür wir uns demnach qua Vernunft einsetzen müssten, können wir herausfinden, wenn wir uns vorstellen: Wir wüssten nicht, an welchem Ort wir zur Welt kämen („Schleier des Nichtwissen“) und sollten dann bestimmen, welche Mindeststandards das Leben eines jeden Menschen erfüllen sollte, weil es ja gut auch das unsere sein könnte. Dann wäre es so weit.