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Lesetipp
Wo das Tintenherz schlägt: Zu Besuch bei Autorin Cornelia Funke in der Toskana
Mit fantastischen Geschichten ist Cornelia Funke weltweit erfolgreich. Wer sie verstehen will, muss die Schriftstellerin zu Hause besuchen. Auf in die Toskana.
Birgit Müller-Bardorff
 |  aktualisiert: 11.03.2024 13:33 Uhr

Eine richtige Adresse gibt es eigentlich gar nicht, hatte sie vorab geschrieben und dann vorsorglich einen Google-Link geschickt, denn selbst das Navi ist keine große Hilfe, wenn man Cornelia Funke in ihrem neuen Domizil in der Toskana besuchen möchte. Nur der rote Punkt auf dem Handy-Display signalisiert: Da muss es entlanggehen, auf diesem schmalen Schotterweg am Rand von Volterra, der sich irgendwann auch steil den Hang hinabschlängelt. Umkehren möchte man hier nicht müssen, und es beruhigt ungemein, als ein verschlungenes Eisentor auftaucht, daneben ein schwarzer Kasten, auf dem mit geschwungener Handschrift in weißen Lettern geschrieben ist: PostaCornelia.

Seit September letzten Jahres lebt die erfolgreichste Kinder- und Jugendbuchautorin in Italien. Nach 16 Jahren verließ sie ihre Wahlheimat Kalifornien, erst einmal für ein Jahr auf Probe, wie sie damals vorsichtig erklärt hatte. Jetzt sitzt sie im rosé-weiß gemusterten Trägerkleid an einem großen Holztisch, zieht ein Knie zu sich heran und sagt: „Ich weiß schon jetzt, dass es die richtige Entscheidung war.“

Die dichten Bäume halten die drückende Hitze der Toskana ab, und durch das Gebüsch sieht man auf Hügel mit Olivenbäumen und Felder, die die Landschaft in braune, ockerfarbene und vereinzelt auch ein paar grüne Rechtecke einteilen. 300 wilde Olivenbäume stehen auf dem Grundstück, das das Haus umgibt, erzählt Cornelia Funke später bei einem Rundgang.

Cornelia Funke teilt mit Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt Zuhause und Atelier

Früher genossen hier Urlauber den Blick in die Gegend, denn die Vorbesitzer betrieben das Anwesen als Agriturismo mit vier Appartements für Feriengäste. Geradezu ein Glücksfall für die Schriftstellerin, die die Appartements gleich mit ihrer Einrichtung übernahm, denn auch Funke beherbergt hier, wie schon auf ihrer Farm in Malibu, viele Gäste – ihren „Stamm“, wie sie diesen inneren Funke-Zirkel nennt: die Assistentin, Geschwister, die beiden Kinder. Vor allem aber auch Illustratorinnen, Musiker, Filmerinnen, Autoren, Malerinnen und Bildhauer aus der ganzen Welt. Sie lädt sie zu sich ein, damit sie hier Inspiration für ihr Werk finden, sich neu entdecken können.

Gerade sind der mexikanische Schriftsteller Adolfo Cordova, seine Frau Mariela Sancari, eine Fotografin und der amerikanische Maler Cole Sternberg da. Im Hof stehen sie um lange Tische herum und erfahren in einem Workshop, wie sich mit Blättern, Blüten und Zweigen Stoffe färben lassen. Die drei sind arriviert in ihrem Metier, meist sind es eher junge Künstlerinnen, die noch ganz am Anfang ihrer Laufbahn stehen.

Mit ihnen teilt Cornelia Funke dann das Atelier und die Werkstatt, wo sie zeichnen und malen, Filme machen oder aus dem für die Toskana typischen Alabaster kleine Skulpturen meißeln. Oder sie stellt ihnen einen der unzähligen Tische in Haus, Hof und Garten zur Verfügung, damit sie ihre Texte schreiben können. „Ist das nicht wundervoll?“, schwärmt Funke und greift nach dem filigran aus Modelliermasse gearbeiteten Kopf einer Handpuppe – Erinnerungsstück an einen Aufenthalt der Illustratorin Sara-Christin Richter in Malibu. Mit ihr arbeitete Funke danach an einem Büchlein über die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.

In den Appartements, im Atelier, der Werkstatt – überall stapeln sich bei Cornelia Funke Bücher

Im Atelier in einem der Nebengebäude stehen auf Staffeleien Leinwände mit fertigen und angefangenen Bildern an der Wand, manche von ihren Gästen, einige von ihr selbst. Auf Kommoden, Vitrinen und Tischen sind dort Kästen mit Farbtuben, Gläser mit Pinseln, Scheren und Stiften und natürlich Bücher.

In zwei Trucks kamen sie zusammen mit den Möbeln erst Monate nach der Übersiedelung in die Toskana an, weil die Pandemie den Abtransport in den USA verzögerte. „Wochen habe ich Kisten von einem Raum zum anderen geschleppt. Du kannst ja niemandem erklären, wie deine Bücher sortiert sein sollen“, sagt Funke, und ihr Lachen deutet an, dass das nicht nur verdrießliche Arbeit für sie war. Wie viele Bücher sie besitzt, das kann sie nicht sagen. „Zu viele“, lässt sie sich dann hinreißen zu sagen, aber weggeben kann sie natürlich kein einziges. Würde einen ja auch wundern bei dieser Frau, die mit „Tintenherz“ eine der schönsten Liebeserklärungen an Bücher und das Abenteuer des Lesens geschrieben hat.

Da hat sie dann lieber den Schreiner Giancarlo, den sie in Volterra auch „Giantalo“ nennen (Talo bedeutet auf Italienisch Holzwurm), beauftragt, ein paar Regale zu bauen. Aus Kastanienholz. Die stehen nun in der Bibliothek, die zugleich Tonstudio ist, weil Bücherwände ja auch einen so herrlichen Klang erzeugen, wie sich ganz nebenbei herausgestellt hat.

Aber eben nicht nur da, sondern auch in den Appartements, im Atelier, der Werkstatt und natürlich in den Wohnräumen der Hausherrin. Aufrecht oder auf dem Rücken liegend, auch kreuz und quer durcheinander, für Außenstehende ohne erkennbare Ordnung: Pu, der Bär, E. T. A. Hoffmans„Nutcracker“, Nachschlagewerke über Heilpflanzen, Architekturführer, Abhandlungen zum Klimawandel. „Gerade lese ich die Geschichte der Medici“, erzählt sie und beschreibt, wie sie sich dafür gern bei einem ausgiebigen Frühstück die Zeit dafür nimmt.

Dass sie hier in der Toskana nun an einem Ort ist, an dem nicht nur die Renaissance noch gegenwärtig ist, sondern auch die 3000 Jahre alte Geschichte der Etrusker, fasziniert sie ebenso wie die Naturverbundenheit der Menschen, die sie hier spürt. „Trüffeln suchen, Wildkräuter sammeln, Oliven anbauen – das ist hier ganz selbstverständlich, daraus wird kein Kult gemacht“, findet sie – und es gefällt ihr. „Ich habe gelernt, dass Orte, die uns auf die Natur zurückwerfen, an denen wir begreifen, dass nicht alles menschengemacht ist, eine tief greifende Wirkung auf uns haben“, meint Funke. Und irgendwann an diesem heißen Vormittag mitten in der Toskana fällt auch dieser Satz: „Der Ort ist das Geheimnis.“

Auf ihrer Farm in Kalifornien musste "Tintenherz"-Autorin Cornelia Funke vor Waldbränden fliehen

In Kalifornien– zuerst in Palm Beach im ehemaligen Haus der Schauspielerin Faye Dunaway, dann in Malibu auf einer Avocadofarm – hatte sie es an sich selbst erlebt, wie die Umgebung einen Menschen verändern, wie sie Kreativität hervorbringen kann. Der Pazifik vor der Haustüre, der immerwährende Sonnenschein, die Unkompliziertheit, Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit der Amerikaner waren es, die sie damals für Kalifornien einnahmen und ihr das Gefühl gaben: „Cornelia, hier bist du richtig.“

Auch hierher war sie 2005 mit Mann, Sohn und Tochter erst einmal „auf Probe“ gekommen, nachdem ihre Bücher „Der Herr der Diebe“ und „Tintenherz“ Bücher „Der Herr der Diebe“ und „Tintenherz“ sie zu einer weltweit bekannten Schriftstellerin gemacht hatten. Funke blieb auch, nachdem ihr Mann an Krebs gestorben war, schrieb Bestseller wie „Tintenblut“ und „Tintentod“, begann ihre „Reckless“-Reihe, die die Leserinnen und Leser in die Märchenwelt verschiedener Kulturen entführt, verfasste „Das Labyrinth des Faun“ nach Guillermo del Toros oscarprämiertem Film und entschloss sich, ihre erstes großes Kinderbuch „Drachenreiter“ fortzusetzen. Die Jahre in Kalifornien hätten sie verändert, ihr so vieles beigebracht, den Kopf offen gemacht für die ganze Welt. „Es war für mich die wichtigste und definierendste Zeit“, fasst sie im Schatten auf der Terrasse zusammen.

Aber bleiben wollte sie dort nun nicht mehr. Der Entschluss wegzugehen hatte dabei weniger mit Abenteuer zu tun als mit Pragmatismus. Wie viele kleine Bäche, die aus allen möglichen Richtungen strömen und irgendwann einen großen Fluss bilden, seien Gedanken und Gefühle zusammengekommen, die sie zu dem Schritt veranlassten.

2018 musste sie vor Bränden fliehen, die bis zu ihrer Farm vordrangen, musste um Menschen und Tiere bangen, die sich dort befanden. Ein Leben mit gepackten Koffern sei es nun gewesen, immer in Erwartung des nächsten Feueralarms, der sie wieder vertreiben würde. Dazu kamen die gestiegenen Bodenpreise, die hohe Grundsteuern mit sich brachten, und der enorme Wasserbrauch für die Avocadofarm. „Es war kein Leben, das man verantworten konnte“, fasst sie zusammen.

Just zu diesem Zeitpunkt kam das Kaufangebot eines Investors, der auf dem Gelände ein Naturfarming-Projekt für Stadtkinder aufbauen wollte. Die Chance, dass das Gelände nicht zum Spekulationsobjekt würde, hatte Funkes Entscheidung, weiterzuziehen an einen anderen Ort, erleichtert und beschleunigt. Ein wenig getrübt wird die Freude mittlerweile durch die Nachricht, dass dieses Projekt gescheitert ist, weil die Geldgeber abgesprungen sind. „Auf die Dauer ist dort kein Leben mit Naturschutz zu verwirklichen“, stellt sie ein wenig bitter fest.

Mit Hamburg fühlt sich Schriftstellerin Cornelia Funke noch immer verbunden

Aber damals fügte sich das eine zum anderen, als ihre Freundin Jane Goodall, Darstellerin der Ida im Film „Herr der Diebe“ und selbst ganz in der Nähe lebend, sie auf das Haus bei Volterra aufmerksam machte, das schon rein rechnerisch einige Vorteile hatte. „Ich kann meine Künstlerresidenz hier mit wesentlich weniger Geld am Leben erhalten, man läuft zu Fuß nach Volterra und alle können sich dort einen Kaffee oder ein Essen leisten“, freut sie sich.

Nicht nur ihre Künstlerresidenz, sondern auch viele andere Projekte, die benachteiligten Kindern und dem Naturschutz zugute kommen, finanziert Cornelia Funke mit ihrer Stiftung „Saum des Drachens“. Sie heißt wie jenes Reich, in dem die Fabelwesen im „Drachenreiter“ ein sicheres Zuhause gefunden haben. Auch die Bibliothek ihrer Heimatstadt Dorsten, die wohl maßgeblich daran beteiligt war, die kleine Cornelia zur großen Schriftstellerin zu machen, kann immer wieder mit Zuwendungen rechnen.

Einige Zeit hatte Cornelia Funkeübrigens auch darüber nachgedacht, wieder nach Deutschland zurückzukehren, dort einen „Spiegelhof“ als Künstlerresidenz zu erschaffen. Denn es ist ja nicht so, dass die Begeisterung für Amerika und der Frust über das schlechte deutsche Wetter für Amerika und der Frust über das schlechte deutsche Wetter den emotionalen Faden in die Heimat gekappt hätten. Mit Hamburg, der Stadt, in der sie zuletzt in Deutschland lebte, fühlt sie sich immer noch verbunden. „Wenn ich über die Elbbrücken fahre, werde ich immer noch sentimental“, gibt sie zu. Aber mit hohen Grundstückspreisen und Nebenkosten hätte sie ja auch in Deutschland zu kämpfen.

„Und dann habe ich mich gefragt: Was wird noch mehr mit dir machen, Cornelia? Deutschland kenne ich doch schon so gut. Ich glaube an Veränderungen im Leben. Ich glaube daran, dass man wachsen soll und es gibt so viele Orte auf der Welt. Ich möchte jetzt einfach noch ein paar sehen und erleben, was die mit mir machen.“ Schottland zum Beispiel ist schon lange so ein Sehnsuchtsort für Cornelia Funke. Als Gegenstück zu ihrer Künstlerresidenz will sie schon bald an der schottischen Küste eine Residenz für Naturschützer schaffen, in der gemeinsame Projekte entwickelt werden. Die Fühler sind bereits ausgestreckt.

In ihren Notizbüchern hält Cornelia Funke alle Ideen zu einer Geschichte fest

Aber erst einmal haben die 63-Jährige ihre Neugier auf das Unverhoffte und der Glaube an Veränderung nach Volterra getragen. Einen Ort übrigens, der bereits ins Fantasy-Genre Einzug gehalten hat. Die Vampire aus Stephenie Meyers„Biss“-Romanen haben hier ihre Vorfahren. Es werden wohl ein paar Fabelwesen und Drachen dazukommen.

Einer sitzt schon am Treppenaufgang dieses typisch toskanischen Bauernhauses mit seinen unverputzten Steinmauern, aus dem jeden Moment auch Fenoglio, der Geschichtenerzähler aus „Tintenherz“, vor die Tür treten könnte. Mit ihrem Bestseller hatte Funke ihre Leser schon damals in ein italiensches Ambiente hatte Funke ihre Leser schon damals in ein italiensches Ambiente geführt, in dem sie sich jetzt niedergelassen hat.

Gerade arbeitet sie an der Fortsetzung der Tintenwelt-Trilogie. In die ersten Kapitel von „Die Farbe der Rache“ konnten ihre Fans Anfang des Jahres schon einmal hineinschnuppern, als kleines Trostpflaster für all die Entbehrungen, die gerade die jungen Menschen durch die Corona-Pandemie hinnehmen mussten.

Wie es weitergeht? Ein Blick in das Notizbuch, das aufgeschlagen auf dem Tisch im Arbeitszimmer liegt, könnte Hinweise geben. Ein weiteres liegt auf dem kleinen Tisch in der Fensternische ihres Wohnzimmers. Und in einem Regalfach ganz unten am Boden steht ein gutes Dutzend dieser schwarzen Kladden Rücken an Rücken – alles Stoff für das vierte Tintenwelt-Buch, das im Herbst nächsten Jahres erscheinen wird.

Cornelia Funkes Notizbücher sind legendär. Zeichnungen, Fotos, Gedanken, alles was ihr zu einer Geschichte und ihren Figuren durch den Kopf geht, kommt in diese Hefte und hilft ihr, in die Welt eines Buches hineinzufinden, sie regelrecht zu erspüren, wie das später dann auch ihre Leserinnen und Leser tun können.

Für Cornelia Funke ist die Bauhaus-Künstlerin Friedl Brandeis eine Heldin

Jungen Menschen, die sie fragen, wie sie am besten selbst zu Schriftstellern werden können, empfiehlt sie, erst einmal mit der Hand in Notizbücher zu schreiben, weil sie dann nicht, wie am Computer, das Gefühl hätten, dass das Geschriebene schon fertig sei. Korrigieren, Verwerfen, Ergänzen gehören für diese Geschichtenerzählerin genauso zum Handwerk wie das Schreiben. Für gewöhnlich hat sie auch nicht nur ein Buch in Arbeit, sondern mehrere.

Im August will sie „Die Farbe der Rache“ erst einmal ruhen lassen und sich wieder einem anderen Projekt zuwenden – einem Pflanzenbuch, das sie zusammen mit einer Kräuterexpertin aus Colorado ersonnen hat. „Sie hat die Informationen zu den Pflanzen beigesteuert und ich habe mir eine Geschichte über zwei zu unterschiedlichen Zeiten lebende Mädchen dazu ausgedacht“, verrät sie.

Aus der Schreibstube soll es am Ende dieser Begegnung mit Cornelia Funke noch einmal zurück in das Atelier gehen. Zu dem von ihr gemalten Porträt der Bauhaus-Künstlerin Friedl Brandeis. Im Ghetto von Theresienstadt und später im Konzentrationslager Auschwitz organisierte die Malerin Zeichenkurse für Kinder, „um ihnen in all dem unsäglichen Leid noch Augenblicke der Schönheit zu geben“, erzählt Funke von der Frau, die mit 46 Jahren in der Gaskammer von Auschwitz starb.

Alle Namen der Kinder, die Brandeis unterrichtet hat – und von denen keines überlebt hat –, hat Cornelia Funke mit feiner schwarzer Tusche auf dem Hintergrund geschrieben, dazu hat sie Motive aus deren Bildern gemalt. Friedl Brandeis sei ihre Heldin, sagt sie. „Sie hat mich gelehrt, dass es eine wundervolle Aufgabe ist, alles, was man gelernt hat, weiterzugeben und wie glücklich künstlerisches Schaffen sogar an den düstersten Orten machen kann.“

Sie glaube daran, sagt Funke, dass es der Sinn des Lebens sei, „unser bestes Selbst, unser nützlichstes Selbst zu entdecken, um in das Gewebe der Welt unseren Faden zu spinnen“. Auch dafür ist die Geschichtenerzählerin nun an einen neuen Ort gegangen.

 
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