Diese Geschichte nimmt einen mit auf einen beklemmenden Lebensweg. Doch kann man "Muna oder Die Hälfte des Lebens", den neuen Roman von Terézia Mora, nicht aus den Händen legen – obwohl Muna in eine albtraumhafte Beziehung gerät. Denn die Hauptfigur, Tochter eines früh gestorbenen Vaters und einer alkoholkranken Schauspielerin, verliebt sich als Praktikantin einer Zeitschrift in den schönsten Mann, den sie "je im Leben sehen würde". Sie lebt in einer fiktiven Kleinstadt in der untergehenden DDR, es gibt ein Stadttheater, an dem ihre Mutter auftritt. Und Muna? Ist wie besessen davon, diesem Magnus, Lehrer am Französischen Gymnasium, näherzukommen. Gerade als sie es schafft, wird die DDR von der Friedlichen Revolution hinweggefegt. Die Geschichte stellt alles auf den Kopf und auf Anfang.
Was Mora auf ihre unnachahmliche erzählerische Art schafft, ist vielerlei. Im Hintergrund in Unschärfe und beiläufig hat sie einen Wenderoman geschrieben. Muna studiert und versucht – eher aus Verlegenheit als wirklichem Antrieb – an den Universitäten Fuß zu fassen. Letztlich landet Muna, die Promovierte, in einer kleinen Buchhandlung. Sie kommt aus armen Verhältnissen und obwohl sie studiert und promoviert, bleiben ihre Lebensumstände prekär. Während des universitären Wegs fließen die Forschungstrends der Geisteswissenschaften ein: etwa die Gendertheorie.
Dieser wissenschaftliche Hintergrund, in dem es um Geschlechtergerechtigkeit geht, wird gegengezeichnet durch die toxische Liebe zu Magnus, von der Muna nicht lassen kann. Ein Transfer von der Wissenschaft ins wirkliche Leben findet nicht statt. Wie es der Zufall will, begegnen sie sich Jahre später wieder. Magnus habilitiert gerade. Muna pendelt daraufhin zwischen Wien und Berlin, zwischen ihrem Leben und Magnus' Leben hin und her. Aber nur weil Magnus der Schönste ist und Muna überall durch ihr Sex-Appeal auffällt, wird das noch lange keine gute Liebe, im Gegenteil, sie entpuppt sich als gefährlich und später auch gewalttätig. Als Magnus nach Basel zieht, folgt sie ihm und reißt hinter sich alle Brücken ab. Da weiß sie schon, dass Magnus ihr gegenüber auch gewalttätig wird. Aber die Schuld daran gibt sie nicht nur Magnus, sondern auch sich. Von ihrer Liebe ist sie wie besessen, gleichzeitig spürt man, dass es andersherum geradezu brüchig ist. Magnus vermittelt den Eindruck, sich jederzeit trennen zu können.
Es gibt nichts Festes, kein Fundament, keine Verankerung
Zu einem Intensiverlebnis wird das, weil Mora beim Erzählen in diese Muna hineinkriecht, die Leserinnen und Leser alles nur aus ihrer Perspektive wahrnehmen. Da fließt wie beim Denken und Fühlen alles gleichzeitig ineinander, Beobachtung und Gedanke, von außen Gesagtes, Beschreibung und innerer Monolog. Immer wieder wirken die Sätze wie ein Lauf über einen weichen Untergrund, bei dem man sofort einsinkt, wenn man nur einen Augenblick stehenbleibt. Es gibt nichts Festes, kein Fundament, keine Verankerung. Nirgendwo. Nicht in der Sprache, nicht im Erzählen, aber auch nicht in Munas Leben. Je länger das geht, desto verlorener und heimatloser erscheint sie.
Wer sich auf diese Muna einlässt, wer ihr folgt, versteht immer mehr, wie eine Frau immer tiefer in einer Beziehung versinkt, die sie eigentlich zerstört. Das erinnert an Suchterkrankungen. Muna erkennt, dass es ihr nicht mehr so gut geht. Aber erst, als es mit Magnus fast schon völlig eskaliert, kann sie die Gewalt, die von ihm ausgeht, auch anderen gegenüber benennen.
Das größte Rätsel bleibt die Hauptfigur selbst
Das größte Rätsel bleibt die Hauptfigur selbst. Da muss der Leser oder die Leserin allerdings wie ein Detektiv vorgehen. Was sie erlebt und wie sie es erlebt, das beschreibt Muna gut. Wie es um sie grundsätzlich bestellt ist, jedoch nur in Andeutungen. Die Mutter war schon immer Alkoholikerin, das prägt auch Kinder. Dann wirft ihr Magnus vor, dass sie kaum Impulskontrolle hat und sich auf alles Neue wie ein Berserker stürzt. Die Männer, die Muna faszinieren, sind alle älter. Hinzu kommen die fortgesetzten harten Brüche zu all den anderen, mit denen Muna anfangs funktionierende Beziehungen aufbaut, die sie aber im Zeichen der Liebesbesessenheit einfach kappt. Könnte es sein, dass Muna sich von Anfang an einen Therapeuten hätte suchen müssen? Man denkt noch lange an sie nach der Lektüre dieses beklemmenden Meisterwerks von Terézia Mora.
Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens, Luchterhand, 448 Seiten, 25 Euro.