Paletten mit Erdbeeren ragen in die Höhe, daneben stapeln sich Aprikosen, Äpfel, Avocados. Leonhard Dünninger inspiziert eine Kiste Ingwer. „Frisch aus China eingeflogen“, sagt er. „Alles, was auf der Welt angebaut wird, kann man hier kaufen.“ In der Münchner Großmarkthalle. Zehn Uhr morgens, das Feilschen um die beste Ware ist längst vorbei und Dünninger hat die ersten Gäste über das Gelände geführt. Er ist Beamter bei der Stadt, die Führungen durch die Großmarkthalle gehören zu seinem Job, früher arbeitete er bei der Abfallwirtschaft. „Da ist mir bewusst geworden, wie viel jeden Tag im Müll landet“, sagt er. Seitdem rettet er Lebensmittel.
Weltweit werden jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen, ein Drittel der produzierten Nahrungsmittel landet im Müll. Gleichzeitig leiden nach Schätzungen der Vereinten Nationen rund 925 Millionen Menschen an Unterernährung. Die enorme Verschwendung frisst Geld, Ressourcen und offenbart die soziale Ungleichheit. Studien zeigen: Je reicher die Menschen, desto mehr Lebensmittel verschwenden sie. Essen für die Tonne muss man sich leisten können. In der EU werden jährlich 60 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen, allein in Deutschland sind es elf Millionen Tonnen. Höchste Zeit, sich mal zu fragen: Woran liegt das und was kann man dagegen tun?
Wir kaufen mehr als wir brauchen und sortieren aus, was nicht gefällt
Anruf bei Karolin Schmidt. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Umweltpsychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und hat zur Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten promoviert. Sie sagt: „Niemand wirft gerne Lebensmittel weg, aber wir haben viele Verhaltensweisen verinnerlicht, die genau dazu führen.“ Das beginnt schon im Supermarkt: Da werden Tomaten inspiziert, Äpfel abgetastet und weiche Bananen achtlos liegen gelassen. Nudeln, Reis und Milch landen im Einkaufswagen, obwohl die Vorratskammer überquillt. Ach, und Nutella ist im Angebot? Dann gehen gleich fünf Gläser übers Kassenband.
Wir kaufen mehr als wir brauchen, sortieren aus, was nicht gefällt, und werfen weg, was nicht schmeckt. Es wird gehamstert und gehortet, bis die Lebensmittel verfallen. „Wir sind es gewohnt, dass alles im Überfluss und in perfekter Qualität vorhanden ist“, sagt Schmidt. „Nahrungsmittel werden als Alltagsgegenstände wahrgenommen, dabei stecken in ihnen enorme Ressourcen.“
In der Münchner Großmarkthalle passiert Dünninger eine Palette Tomaten. „Aus Italien, muss man sich mal vorstellen, wie viele Menschen dafür gearbeitet haben.“ Anpflanzen, veredeln, ernten, verpacken, da sind Hunderte Hände monatelang beschäftigt. Der Obst- und Gemüsehandel habe sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, weniger saisonal und regional. „Früher hatten die Händler zwei Wochen geschlossen, wenn die frische Ware noch nicht geerntet war“, sagt er. Heute ist rund ums Jahr alles verfügbar und das Prinzip ist einfach: Angeboten wird das, was verkauft wird. „Wenn die Leute lieber Avocado-Ingwer-Bowls essen statt bayerischen Radi, werden Avocados und Ingwer eingeflogen und nicht der Radi angebaut“, sagt Dünninger und bleibt abrupt vor den Kumquats stehen. „Wie viele Ressourcen da drin stecken, die fliegen um die halbe Welt, bis sie hier in der Kiste landen.“ Oder in der Tonne.
Genau das will Dünninger vermeiden, seit zehn Jahren engagiert er sich bei Foodsharing, einem Verein, der überschüssige Lebensmittel rettet und kostenlos verteilt. Dünninger hat schon Brotberge und Umzugskartons voller Schoko-Nikoläuse vor der Tonne gerettet. Sein ungewöhnlichster Fang: 150 frisch gegrillte Wiesn-Hendl. Eine Schlechtwetterfront hatte den Standbetreibern das Geschäft vermiest, für die Foodsharing-Gemeinschaft war es ein Festschmaus. „Die Hendl haben wir schnell losgebracht“, sagt Dünninger.
Das ist nicht immer so, Brot vom Vortag wollen die wenigstens, auch bei 20 Kilo Tomaten lehnen viele dankend ab. „Da muss man Zeit haben und das Zeug schnell verarbeiten“, sagt Dünninger. Pesto, Suppen, Marmeladen, sein Vorratsschrank ist voll mit Eingewecktem. Zweimal in der Woche fährt er zu Supermärkten und holt Lebensmittel ab, die in der Tonne landen würden. Was und wie viel er bekommt? Jedes Mal eine Überraschung. „Ich muss nicht entscheiden, was ich koche, sondern experimentiere mit dem, was da ist“, sagt er. Nur soviel ist sicher: Er isst mehr Obst und Gemüse als früher.
Die Tafeln sammeln deutschlandweit jedes Jahr 265.000 Tonnen Essen
Initiativen zur Rettung von Nahrungsmitteln gibt es viele. Allein in München werden über Foodsharing täglich rund 700 Kilo Lebensmittel vor der Tonne bewahrt, die Plattform hat eigenen Angaben zufolge 500.000 Nutzerinnen und Nutzer in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch die Tafeln sammeln deutschlandweit jedes Jahr 265.000 Tonnen Essen und geben es an armutsbetroffene Menschen weiter. In einigen Städten stehen „Fairteiler“, frei zugängliche Kühlschränke mit Lebensmitteln, die nicht mehr verkauft, aber verspeist werden können.
Manche Menschen fischen abgelaufene Lebensmittel aus den Containern der Supermärkte, auch wenn das illegal ist. Justizminister Marco Buschmann und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir haben sich für das straffreie Containern ausgesprochen, doch an der Rechtslage hat sich bislang nichts geändert. Lebensmittel lassen sich aber auch legal retten. Manche Läden haben sich auf aussortierte Ware spezialisiert, Landwirte laden zur Nachernte ein, Freiwillige dürfen dann auf die Felder und pflücken, was von der Ernte übrig ist. Über Apps wie „Too Good To Go“ können Betriebe überschüssige Lebensmittel anbieten, und Kochbücher wie „You can cook this“ oder „Zero Waste Küche“ geben Tipps zum abfallfreien Kochen.
Einige Restaurants haben genau das zum Konzept gemacht. Eines davon liegt im Münchner Osten, in einem Betonklotz am Rande von Neuperlach. Ehemaliges Versicherungsgebäude, mehrere Stockwerke hoch, außen grau, innen bunt. Die Drehkreuze am Eingang stehen noch, sind aber von Pflanzen verdeckt. Bemalte Schilder weisen den Weg zur „Community Kitchen“. Vor drei Jahren haben Judith Stiegelmayr und Günes Seyfarth das Restaurant eröffnet, inzwischen gehen täglich 200 Essen über den Tresen. Mal kommen Gäste, mal ganze Schulklassen, auch Catering bieten sie an. Gekocht wird mit geretteten Lebensmitteln, die von Supermärkten, Produzenten oder Großhändlern gespendet werden. Nur Grundzutaten wie Salz, Pfeffer oder Mehl kaufen sie zu.
In der "Community Kitchen" wird mit geretteten Lebensmitteln gekocht
Die beiden Gründerinnen sitzen am Tisch und erzählen, von den Anfängen, Herausforderungen und davon, wie sie manchmal vor Paletten mit aussortierten Lebensmitteln stehen. Mehrmals in der Woche sammeln Ehrenamtliche überschüssige Waren ein, da kommen schon mal 20 Tonnen zusammen. „Wir wissen nie, was wir bekommen“, sagt Stiegelmayr. „Dadurch können wir nicht langfristig planen, aber die Arbeit bleibt spannend.“ Verkocht wird, was die Lieferung hergibt.
Vergangene Woche waren es 20 Paletten Kefir, Joghurt und Milch, an anderen Tage sind es Kisten voll mit Avocados, Champignons oder Heidelbeeren. „Da steht man erst mal da und denkt, wohin mit all den Sachen?“, sagt Stiegelmayr. Aber an Ideen mangelt es den Mitarbeitenden nicht. Auflauf, gefüllte Auberginen, Schnitzel, Truthahn mit Gemüse, was die geretteten Lebensmittel eben hergeben. Was nicht auf dem Teller landet, kommt in den hauseigenen Fairteiler, wird eingemacht oder an andere Einrichtungen weiterverteilt.
Zwei Gerichte stehen jeden Tag zur Auswahl, heute: Putengeschnetzeltes mit Pilzsoße oder vegane Teigtaschen, dazu ein buntes Salatbüffet, Nachspeisen und mehrere Kuchen. 13 Uhr, Mittagessenszeit, mehrere Gäste sitzen im Restaurant. Vier Euro fürs Senioren-Menü, das zieht. „Wir wollen nicht nur Lebensmittel retten, sondern einen sozialen Beitrag leisten“, sagt Seyfarth.
25 Mitarbeitende und 75 Ehrenamtliche engagieren sich am Sozialprojekt, das neben dem Restaurant auch Gemeinschaftsräume, eine Kreativwerkstatt, Kino, Fotostudio und einen Secondhandladen umfasst. In den oberen Stockwerken des ehemaligen Versicherungsgebäudes haben sich Künstlerinnen und Künstler eingemietet, auch Bildungsorganisationen, eine Sprachschule oder eine Theatergruppe sind dabei. Ein offener Ort mit einem besonderen Restaurant im Zentrum. Auch Seyfarth engagiert sich seit Jahren bei Foodsharing und weiß, wie viel tagtäglich im Müll landet. „Ich bin immer wieder schockiert über das Ausmaß der Verschwendung. Fünf Paletten Milch zu retten, wirkt wie ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es ist besser als nichts.“
60 Prozent der Lebensmittelabfälle entstehen in privaten Haushalten
Jeder Deutsche wirft 78 Kilo Lebensmittel im Jahr weg. Am häufigsten landet frisches Obst und Gemüse im Müll, Brot und Backwaren machen 13 Prozent aus, dicht gefolgt von Getränken und Milchprodukten. Allerdings werden auch nicht essbare Bestandteile wie Obstschalen, Blätter, Kaffeesatz oder Knochen mit einberechnet, also Abfall, der sich nicht vermeiden lässt.
Nach Ansicht von Seyfarth sind die Zahlen daher mit Vorsicht zu genießen. „Auf Grundlage solcher Statistiken wird die Verantwortung auf den Einzelnen abgeschoben, dabei sollten Hersteller und Supermärkte stärker zur Verantwortung gezogen werden“, sagt Seyfarth. In Deutschland werde zu wenig gegen die Lebensmittelverschwendung getan. Solange die Regierung auf die Freiwilligkeit der Produzenten und Einzelhändler setzt, werde sich nichts verändern.
Dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zufolge werden 6,5 Millionen Tonnen Lebensmittel und damit 60 Prozent in privaten Haushalten weggeworfen. Im Handel sind es knapp eine Million Tonnen. Bei der Verarbeitung fallen etwa doppelt so viele Abfälle an ebenso wie bei der Außer-Haus-Verpflegung. Die massive Verschwendung ist nicht nur aus ethischer Sicht problematisch, sondern frisst Ressourcen. Darunter leidet auch das Klima.
Studien zufolge geht die Hälfte der weltweiten Treibhausgasemissionen aus der Lebensmittelproduktion auf Abfälle zurück, insgesamt 9,3 Milliarden Tonnen CO2. Das entspricht den jährlichen Emissionen der USA und der Europäischen Union zusammen. Fleisch zu entsorgen, ist besonders schädlich, rund 73 Prozent der Emissionen durch Lebensmittelabfälle entfallen auf Fleisch, 21 Prozent auf Getreide und 2,4 Prozent auf Obst und Gemüse.
In Deutschland werden die Preise mit Subventionen niedrig gehalten
Dokumentarfilme wie „Taste the Waste“ oder „We Feed the World“ zeigen die Ausmaße des globalen Lebensmittelabfalls. Staatliche Informationskampagnen sollen aufklären, erreichen aber nur selten den Endverbraucher. Oder schon mal was von „Zu gut für die Tonne“ oder #DeutschlandRettetLebensmittel gehört? Das Landwirtschaftsministerium hat 2019 sogar eine „Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung“ vorgelegt. Die Zahlen sind verheerend, die Probleme bekannt. Frage also an die Expertin: Warum ändert sich nichts?
Das Konsumverhalten spielt eine Rolle, sagt Umweltpsychologin Karolin Schmidt. Aber auch der Preis, denn der bestimmt die Wertigkeit eines Produkts. Was billig und ständig verfügbar ist, landet schnell mal im Müll. „Durch die Inflation sind Lebensmittel zwar teurer geworden, verglichen mit anderen Ländern sind sie aber immer noch sehr günstig“, sagt Schmidt. „Die Preise werden mit Subventionen niedrig gehalten.“
Deutsche geben etwa zehn Prozent ihres Gehalts für Essen aus, der EU-weite Durchschnitt liegt bei 14 Prozent. In Entwicklungsländern müssen Menschen teils mehr als die Hälfte ihres Einkommens in Lebensmittel investieren. „Wir sind mit billigem Essen sozialisiert und haben die Wertschätzung für Lebensmittel verloren“, sagt Schmidt. Viele geben ihr Geld lieber für Urlaub, Klamotten oder das neueste Smartphone aus statt für Lebensmittel. „Gleichzeitig ist das Konsumverhalten nicht mehr mit dem Wegwerfen verknüpft.“ Die Reste vom Vortag oder die verschrumpelten Champignons landen in der Tonne, wie viel sich jeden Monat ansammelt, haben die wenigsten im Blick.
Gemüse hält sich länger, wenn es aus der Folie ausgepackt wird
„Wir sollten uns wieder mehr mit dem eigenen Lebensmittelverbrauch auseinandersetzen“, sagt Schmidt. Was das konkret bedeutet? Den Einkauf planen und nur Produkte in den Mengen besorgen, die man benötigt. Die Einkaufsliste dient dann nicht nur als Erinnerung, sondern als verbindliche Liste. Das setzt voraus, dass man seine Vorräte kennt und auch mal aufbraucht. Einfach gesagt: Wenn zwei Packungen Spaghetti und drei Tüten Schleifennudeln im Schrank liegen, müssen nicht noch Rigatoni gekauft werden. „Es geht nicht um Verzicht, die Tafel Schokolade darf natürlich ungeplant im Einkaufswagen landen, aber wer bewusst konsumiert, wirft weniger weg und spart obendrein noch Geld“, sagt Schmidt.
Außerdem sollten Lagerhinweise beachtet werden. Ein paar Tipps von der Expertin: Gemüse hält sich länger, wenn es aus der Folie ausgepackt wird. Kartoffeln und Zwiebeln mögen es dunkel, Tomaten, Paprika, Auberginen und Zucchini vertragen Kälte nicht so gut. Bei Karotten und Radieschen dreht man am besten das Grün ab. Äpfel, Bananen, Pfirsiche oder Birnen sondern das Reifegas Ethylen ab, auf das andere Sorten empfindlich reagieren, sie sollten separat aufbewahrt werden. Exotische Früchte wie Avocados, Kiwis oder Zitrusfrüchte mögen es warm, also lieber schnell essen als im Kühlschrank lagern.
In Frankreich sind Supermärkte verpflichtet, überschüssige Ware abzugeben
Apropos schnell essen, mal ein kurzer Blick auf das Mindesthaltbarkeitsdatum. 1981 eingeführt sollte es Verbraucher vor verdorbenen Lebensmitteln schützen, führt aber mittlerweile dazu, dass Produkte vorschnell entsorgt werden. Denn das Datum verrät nur den Zeitpunkt, bis zu dem das Lebensmittel seine optimale Qualität behält, schlecht ist es danach nicht. Im Gegenteil: Konserven halten sich oft mehrere Monate oder Jahre, auch Milchprodukte können teils zwei Monate später bedenkenlos verspeist werden. „Wir vertrauen nicht mehr auf unser Urteilsvermögen“, sagt Schmidt. Also lieber mal an der Milch riechen oder den Joghurt probieren, statt ihn in die Tonne zu werfen.
Aber auch im Einzelhandel werden Produkte teils Tage vorher aussortiert, denn sobald das Datum überschritten ist, bürgt nicht mehr der Hersteller, sondern das Handelsunternehmen für die Unversehrtheit eines Produkts. Ein Grund, warum nur wenige Einzelhändler in Deutschland „abgelaufene“ Lebensmittel günstiger verkaufen oder an soziale Einrichtungen abgeben. Das ließe sich ändern. In Italien können Unternehmen, die Lebensmittel spenden, nicht so leicht haftbar gemacht werden. In Frankreich sind Supermärkte sogar gesetzlich verpflichtet, überschüssige Ware an soziale Einrichtungen abzugeben. Bei Verstößen hagelt es Geldstrafen, das zahlt sich aus: Pro Kopf werden etwa 30 Kilo Lebensmittel im Jahr weggeworfen. Noch mal zum Vergleich, in Deutschland sind es knapp 80 Kilo.
Zwar können Supermärkte ihre Zahlen beschönigen, denn gespendete Lebensmittel fallen nicht in die Abfallstatistik, sagt Schmidt. Man könne auch nicht sicher sein, dass die Produkte tatsächlich verbraucht werden. Trotzdem befürwortet die Expertin solche Maßnahmen, denn sie setzen ein Zeichen: „Spenden ist immer noch besser als wegwerfen.“ Anders sieht es beim Verbrauchsdatum aus. Verderbliche Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, geschnittener Salat oder Obst dürfen nach dem angegebenen Datum nicht mehr verkauft oder gegessen werden. Daran sollte sich Kundinnen und Kunden auch halten.
Die Verordnung zur Maximalkrümmung von Salatgurken ist längst abgeschafft
Doch zu oft landen Nahrungsmittel im Müll, die eigentlich noch gut sind. Das mag am Konsumverhalten liegen, aber das Problem beginnt meist schon vorher, denn ein Großteil der Lebensmittel kommt gar nicht erst in den Verkauf. Oft werden Produkte, etwa aufgrund von Preisschwankungen auf dem Markt, nicht geerntet, weil es sich nicht rechnet. Oder sie entsprechen nicht den vorgegebenen Normen und Qualitätsanforderungen. Ein Klassiker des Regulierungswahns: die zu krumme Gurke. Krumme Geschichte, aber längst wieder geradegebogen. Die EU hatte vor 30 Jahren eine Verordnung zur Maximalkrümmung von Salatgurken erlassen – übrigens auf Betreiben von Handelsverbänden und Agrarministern der Mitgliedsstaaten, aber sie ist längst abgeschafft.
Legendär auch das Bü-Bü-Bündnerfleisch! Das sorgte im Schweizer Bundesrat für einen Eklat, denn als der Finanzminister die verschwurbelten Einfuhrbestimmungen zum gewürzten Fleisch vorlas, brach er in schallendes Gelächter aus und wurde über Nacht zum Youtube-Star. Ist aber auch schon 20 Jahre her, also Spaß beiseite und zurück in die Gegenwart. Denn da sorgen neben Qualitätsanforderungen auch Lagerüberschüsse, Sortimentswechsel oder Fehletikettierungen dazu, dass Lebensmittel im Abfall landen. Auch die Neugestaltung von Verpackungen wie jetzt zur Fußball-EM spielt eine Rolle. Schokoladentafeln und Chipstüten werden mit Fußbällen bedruckt und nach dem Finale aus dem Sortiment genommen, weil dann alle genug haben.
Expertin fordert längere Mindesthaltbarkeitsdaten von Lebensmitteln
Was also tun gegen die Verschwendung? „Es braucht eine umfassende Strategie“, sagt Umweltpsychologin Karolin Schmidt. Sie sieht nicht nur die Verbraucherinnen und Verbraucher in der Verantwortung, sondern auch den Einzelhandel und die Politik. Schätzungen zufolge lassen sich rund zehn Prozent der Lebensmittelabfälle in der EU auf die Datumsangabe zurückführen. Die Expertin fordert deshalb längere Mindesthaltbarkeitsdaten, denn diese seien im Laufe der Zeit immer kürzer geworden, obwohl die Produkte nicht schneller schlecht würden. „Wirtschaftlich mag sich das lohnen, weil dann mehr verkauft wird, aber es ist nicht im Sinne der Nachhaltigkeit“, sagt Schmidt.
Weitere Schritte: Subventionen nur auf nachhaltig produzierte Nahrungsmittel und höhere Preise. Diese müssten allerdings einhergehen mit Sozialprogrammen für einkommensschwächere Haushalte. Vorgaben zur Normierung von Obst und Gemüse oder zur Abgabe von Lebensmitteln könnten gelockert werden, außerdem hält Schmidt es für sinnvoll, das Containern zu erlauben. „Es ist ein langwieriger Prozess“, sagt die Expertin. „Aber ich bin optimistisch, denn das Bewusstsein für eine nachhaltige Ernährung wächst und damit auch für das Ausmaß der Lebensmittelverschwendung.“ Also beim nächsten Einkauf einfach mal weniger in den Wagen legen, oder in den sauren Apfel beißen und die braune Banane mitnehmen.
Zurück in die Münchner Großmarkthalle. Drinnen werden die letzten Paletten verladen, draußen stehen einige Frauen mit Tüten in der Hand. Sie warten auf das, was übrig bleibt und nehmen mit, was die Händler an diesem Morgen nicht verkaufen konnten und an die Tafel weitergeben. Und, wie viel landet hier jeden Tag in der Tonne? „Viel ist es nicht“, sagt Dünninger. „Die Händler leben davon, dass sie ihre Ware verkaufen und nicht wegwerfen oder verschenken.“ Hohe Ausfälle kann sich hier niemand leisten. Notfalls werden auch mal große Mengen günstiger verkauft, das ist immer noch das bessere Geschäft, denn: Wer in der Großmarkthalle Lebensmittel wegwirft, zahlt für die Entsorgung. „Dadurch ist die Verschwendung minimal“, sagt Dünninger.
Und er selbst? Hält nicht viel von noch mehr Regelungen, als Verwaltungsbeamter leide er jetzt schon unter einer Flut an Vorschriften. Er rettet lieber weiter Lebensmittel. „Mir macht das Spaß. Ich weiß zwar nicht, was morgen auf den Tisch kommt, aber knapp wird es nie.“