
Der Zug kommt. Wer das noch bezweifelt, dem wummert jetzt das Lied zur Saison um die Ohren: „Der Zug, der Zug, der Zug hat keine Bremse …“, der Song pumpt aus dicken Lautsprechern, er beschallt die Dorfstraße, in der das Faschingstreiben ausbricht. Bunt karierte Clowns starten eine Polonaise und krähen „Hioooo!“, eine Kindergarten-Gruppe winkt am Straßenrand, in Pumuckl-Kostümen.
Ein Tigerpapa schiebt sein Tigerkind im Buggy über den Gehweg, ein Rudel von Pharaonen stolziert um eine Pyramide auf Rädern. Und während dieser Umzug also keine Bremse kennt, hat Lukas der Lokomotivführer noch eine Frage: Der Mann in Latzhose hat seine Mini-Dampflok geparkt, gleich beim Ortsschild, das Großkötz von Kleinkötz trennt, und er weiß nicht so recht: „Seid ihr … Fische?“
Die Meerjungfrau, die vor Lukas steht, zupft ihre blaugrüne Perücke zurecht und beißt noch einmal in die Schnitzelsemmel, die sie in Händen hält. Ihre Erklärung zum Wassernixen-Kostüm – und der Rest des Flirts – geht in einem Sturm unter, den eine Schalmeien-Truppe jetzt durch die Gasse bläst. Aber warum auch viele Worte: Name? Beruf? Schuhgröße? Egal. Heute verwandelt sich jeder in ein Wesen seiner Wahl.
Gibt es im Karneval einen Dresscode? Was zieh ich an im Fasching?
Kleider machen Leute? Kostüme machen den Karneval – das gilt von Ulm bis Köln, von Rio bis Venedig. Aber wer Ernst machen will mit dem Spaß, der kann auch kritische Fragen stellen: Was ist denn nun der wahre Unsinn, der schönste und ursprüngliche? Ist es der Karneval in Köln, mit Uniform und Elferrat? Oder der schwäbisch-alemannische, mit seinen Masken und Geistern? Gibt es einen Dresscode für Narren? Denn es geht ja längst um mehr als Tradition: Warum gilt es heute als falsch, sich als Indianer zu verkleiden? Oder sich das Gesicht schwarz zu pinseln, für einen Karnevalstag? In diesem Konfetti-Regen an Fragen fällt aber eine Frage als erstes. Eine grundsätzliche. Warum verkleiden wir uns überhaupt – wozu die Maskerade? Wolfgang Oelsner hat da eine Theorie: „Das liegt wohl daran, dass wir uns im wahren Leben einmal entscheiden mussten. Für einen Beruf. Für einen Wohnsitz. Für eine Partnerschaft. Aber … da wären ja noch die 99 anderen Möglichkeiten. Und schon denkt man: Was wäre, wenn?“ Der Karneval flüstert: Es könnte alles anders sein. Und das, was diese Fantasie in den Straßen entfacht, hat der Psychologe Oelsner gründlich erforscht. Der 74-Jährige gilt als „Karnevalsphilosoph“, er trägt den „Willy-Millowitsch-Orden“ des Kölner Karnevals-Komitees.
Startschuss mit der Kamelle-Kanone: 11.11., 11 Uhr 11. Bricht der Karneval an, bricht der Mensch aus seiner Rolle aus. „In dieser Zeit genießen wir das Privileg, das einem Schauspieler an jedem Abend vergönnt ist“, erklärt Oelsner. Es ist das Privileg der Verwandlung, mit Kostüm und Maske. Jetzt darf sich der Mensch zum Affen machen – zur Prinzessin, zum Piraten, zum Panzerknacker –, ohne seine Würde zu verlieren. „Ich riskiere nicht meinen Ruf. Über der Figur liegt der Schutz des Brauchs, des alten Rituals.“ Zu diesem bestimmten Anlass, für diese begrenzte Zeit, wirkt ein Kostüm wie ein Schutzschild. „Und am nächsten Tag kehren sie in ihr altes Kostüm zurück.“ In ihren Anzug, ihren Blaumann, in die Arbeitskleidung.
Muss es denn im Fasching das Indianer-Kostüm sein?
So ein kleiner Ausflug ins Fantastische kann wie eine Befreiung wirken. „Transzendierend“ nennt Oelsner diesen Effekt und meint damit: Die ganze Schminke färbt immer auch ein bisschen auf die Seele ab. Ein Beispiel? Ein Flirt am Kneipentresen, ein heißer Blickkontakt zwischen zwei Maskierten, das kann dem Selbstbewusstsein und dem Mut einen Schub geben. Und manchmal genügt schon die Rolle allein: „Setzen Sie sich einmal eine Krone auf. Sie gehen plötzlich anders, sie schreiten. Und diese Verwandlung erleben Sie auch als leibhaftiger Mensch hinter der Maske, denkend und fühlend.“
Bunt die Masse, schwarz-weiß die Bilder: Ein Film zeigt den Straßenkarneval am Rhein, im Jahr 1960. „Leeev Kölsche Jecken!“, grüßt der Prinz in Strumpfhosen seine Untertanen und erklärt die Session für eröffnet. Die Kamera schwenkt über die schunkelnde Masse, ein Meer von Herrenhüten und Damenpelzen, dicht an dicht. Ufffta, ufffta wummert der Spielmannszug und das Trömmelchen scheppert. Erst springt ein kleiner Weißclown durchs Bild – dann sie: Eine Jeckin hat sich das Gesicht schwarz angemalt, vom einen Ohr zum andern. Sie trägt eine Lockenperücke wie gekräuseltes Pech und einen Nasenring, um den Hals eine Blumenkette, in der Hand ein Tambourin. Ein Polizist richtet ihr den Creolen-Ohrring. Karneval kolonial.
Jeder darf alles sein, sagt der Fasching. Regieren Sie als Kaiser für einen Tag, toben sie als Rhinozeros oder Einhorn über die Straße, jede Rolle ist erlaubt, aber … muss es denn der „Indianer“ sein? Oder der Südsee-König mit schwarzem Gesicht? Darüber streiten Karnevalisten und Kritiker, Interessensverbände und Festkomitees. Wo beginnt der Rassismus, wann wird er zum Faschingsscherz? Der Karnevalsphilosoph Oelsner äußert sich mit Vorsicht: „Aus gesellschaftspolitischer Sicht kann ich die Debatte nachvollziehen. Wenn Menschen sich diskriminiert fühlen und ihre Verletztheit bekunden, dann stoße ich an eine Wand, die ich gar nicht ignorieren kann. Nicht ignorieren will.“
Die problematische Seite der kulturellen Aneignung, also der Selbstbedienung bei Kulturen anderer Länder, nimmt Oelsner wahr. Aber auf bestimmte Kostüme und Rollen zu verzichten, das sei auch eine „Verarmung an Möglichkeiten“. Er sieht auch eine Kehrseite in der Aneignung: „Da schwingt immer auch Bewunderung mit, wenn ich zum Beispiel als Häuptling der Sioux auftreten möchte. Ich setze mich, im besten Fall, mit einer Kultur auseinander.“
Eine Expertin fordert mehr Integration und Inklusion im Karneval
Von der Psyche zum Stoff: Auch Gudrun M. König verfolgt die Grundsatzdebatte unter Narren – sie hat an der Technischen Universität in Dortmund den Lehrstuhl für Kulturanthropologie, sie erforscht die Wirkung der Verkleidung: „Ich begrüße die Debatte. Ich finde es gut, dass wir auch auf diesem Feld über Rassismus und Diskriminierung diskutieren, das müssen wir“, sagt sie. Diese neue Vorsicht, diese Rücksicht beim Griff in die Kostümkiste hat aber auch einen Haken aus ihrer Sicht: „Diese Einschränkung widerspricht ein bisschen dem Grundprinzip des Karnevals. In der Fastnacht geht es darum, die Welt auf den Kopf zu stellen, unten und oben zu vertauschen. Es ist die Inszenierung einer verkehrten Welt, einer sozialen Travestie.“ Die Diskussionen sollten sich dabei nicht nur um Verkleidungen drehen, sondern um grundsätzliche gesellschaftliche Fragen, findet König: „Was stärkt das Gemeinschaftsgefühl? Wie integrativ sind die gemeinsamen karnevalesken Aktivitäten? Wer fühlt sich durch welche Verkleidung diskriminiert?“ Die Fastnacht sei jedenfalls so vielfältig bunt wie die Gesellschaft an sich. So bunt wie der Katalog aller denkbaren Kostüme.
Nachrichten für Narren: Wochenschau, Januar 1951. „Mit dem Beginn des Faschings klettert das Barometer des Frohsinns wieder in schwindelnde Höhen“, spricht eine Männerstimme, als würde sie über ein Grammophon rauschen. Im Bild, schwarz-weiß? Eine Kostüm-Modenschau in München. Ein Model tanzt Charleston und schlenkert mit den Beinen, in ihrem Zimmermädchen-Kostüm. Schnitt. Eine Teufelin im Glitzer-Dress zeigt ihre funkelnden Hörner. Schnitt. Ein Burgfräulein präsentiert ihren Spitzhut und ihre Figur im Korsett. „Selbst entworfene Modelle. Für jeden Geschmack und jedes Temperament.“
Was zieh ich an? Mit welchem Dress liege ich im Trend unter Narren? Und ist der Karneval nicht auch die Zeit, um politische Haltung zu zeigen – Kostüm mit Kritik? „Die Verkleidungspraktiken sind ja sehr unterschiedlich, von politisch über klassisch bis zeitgeistig“, erklärt Gudrun König. „Gerade in schwierigen Zeiten, in einer komplizierten Krisenlage, wie wir sie gerade erleben, ist es schwierig, klare politische Trends in den Kostümen auszumachen. Aber vor ein paar Jahren war zum Beispiel die Klimaaktivistin Greta Thunberg ein beliebtes Kostüm in aller Mehrdeutigkeit: als Persiflage, als Kritik und als Zustimmung.“
In dieser Saison liegt eine Blondine in Pink auf Platz eins der Hitliste: Barbie. Der Kinofilm-Knüller des Jahres 2023 wird zum Kostümschlager der Karnevalssession – da sind sich alle Trend-Gurus einig. Der Kölner Stadtanzeiger will auch noch Themen der Saison gesichtet haben: „Bunter Glitzer-Glitzer. Die Goldenen Zwanziger. Royale Paare. Puschelkostüm. Schwarz-Weiß-Fantasie.“ Wer kann sich darauf einen Reim machen?
Ob Cosplay, Karneval oder Mottoparty: Sich verkleiden liegt im Trend
Für die Maskerade gibt es eben mehr als eine Erklärung, mehr als nur eine Spielart. Fragt man Gudrun König, woher die Lust kommt, sich zu verkleiden, sagt sie: „Die eine, einzige Lust gibt es gar nicht. Und nicht nur in christlichen Traditionen gibt es Rituale mit Verkleidung.“ In Rio feiern sie Karneval in gefiederten, knappen Kostümen. Beim Mardi Gras in New Orleans spielen die Posaunen Dixieland. Edel bis kultiviert wirken die Maskenfeste in Venedig. Deshalb misstraut König auch dem Mythos vom einen, wahren Ursprung. Die katholische Kirche klopft sich heute auf die eigene Schulter: Ohne Glaube kein Narrentreiben, so lautet die Legende.
Was stimmt: „Fast-nacht“, das ist der Begriff für die letzte Nacht vor der 40-tägigen Fastenzeit, der großen Entbehrung vor dem Osterfest. Auch im „Karneval“ steckt der Verzicht, der den Narren blüht, die sich eben noch fett-saftigen Krapfen einverleiben – „carnevale“ bedeutet im Italienischen: „Das Fleisch wegnehmen“. Aber König lässt das nicht unkommentiert stehen, die Ursprünge und Umstände sind komplizierter: „Karneval oder Fasching haben keine kontinuierliche Tradition. Immer wieder gab es Zeiten der Verbote von Umzügen oder Straßenkarneval etwa. Mal ist es das Wetter, mal Corona, mal sind es politische Krisenzeiten.“
Karneval lebt von der Geschichte – und trifft heute wieder einen Nerv. „Ich habe den Eindruck, der Trend zur Verkleidung weitet sich aus“, sagt König. „Halloween, als relativ junger Brauch, ist da nur ein Beispiel von vielen.“ Auf Mittelaltermärkten leben erwachsene Menschen das Leben von anno 1200 nach. Im Cosplay spielen sie fantastische Fabelwesen, Figuren aus Manga-Comics, Computerspielen oder Fantasy-Büchern. Gudrun König betrachtet die Szene: „Es gibt Vereine, die sich intensiv mit Kostümen beschäftigen. Manche schneidern ihre Kleidung selbst in Handarbeit, manche bemühen sich um das Upcycling von alten Stoffen. Aber daneben gibt es eben auch die sogenannte Fast Fashion, also Kostüme, die schnell verschlissen und weggeworfen werden. Auf dem Kostümmarkt findet sich die ganze Palette, auch im Karneval.“
Manche verkleiden sich im Fasching als Ahoi-Brause oder Aperol Spritz
Es gibt Jecken, die spielen mit dem Konsum: Manche Narren spazieren als ein riesiges Päckchen Ahoi-Brause, Marke Waldmeister, durch den Umzug. Andere streifen sich ein oranges Shirt über und treten als menschgewordener Aperol Spritz auf. Nehmen die Karnevalisten den Kapitalismus auf die Schippe? Das bezweifelt König: „Konsumkritik erkenne ich da nicht.“ Sie vermutet einen anderen Hintergrund: Marken schleichen sich in den Karneval ein, über den Weg der Erinnerung. Kindheitserinnerungen an den Pumuckl und an Barbie, an die Gummibärenbande und die prickelnde Brause. „Das ist gewissermaßen eine Travestie der Generationen. Die Erwachsenen über 30, über 40, verkleiden sich in Kindheits- oder Jugendträume.“
Die Kindheit, das Kostüm, der Karneval – wie diese Elemente vernetzt sind, erklärt der Psychologe Wolfgang Oelsner: „Eigentlich brauchen Kinder für so ein Spiel gar nicht den Fasching.“ Jeden Morgen in der Kita erleben sie die Freiheit, die Rollen neu zu verhandeln im Spiel. Du der König, ich der Clown – „man nennt das die magische Phase. Da sind die Kinder die Zauberer ihrer eigenen Möglichkeiten.“ Aber für die Schüchternen, die Ernsten unter den Kindern, kann der Karneval ein Zündfunke sein. Ein Mutmacher. Aber: nur in feiner Dosierung, sagt Oelsner. Sonst erzeugt die Maskerade Grusel, Angst und Scham.
Karneval in Köln: Das steckt hinter der Tradition mit Dreigestirn
Vom jungen bis zum alten Narren: Die Fastnacht legt Gefühle frei. Oder wie es der Psychologe formuliert: „Da wird freigelassen, was sonst an der kurzen Leine geführt wird.“ Fremde schunkeln miteinander, Unbekannte duzen sich, ohne höflich zu fragen, weil es sich eben komisch anfühlen würde, ein Zebra zu siezen: Das sind Tabubrüche, die für kurze Zeit erlaubt sind. Das kostet durchaus Überwindung, räumt Oelsner ein – aus eigener Erfahrung: „Schminkt man sich zu Hause, vor dem Badezimmerspiegel, kommt man sich noch etwas bescheuert vor.“ Aber dann, auf der Straße, schwappt die Welle über, das Gemeinschaftsgefühl: Die ganze Stadt verkleidet sich. Das ganze Dorf. Bereit für kleine und größere Tabubrüche.
Karnevalssitzung in Köln, Session 1973, die Kamera läuft: „Lasst mal hören! Wie ist denn die Stimmung?“, fragt der Büttenredner Jonny Buchardt und feuert den Saal an: „Zickezacke, zickezacke …“, die Menge antwortet: „Hoi, hoi, hoi!“. Er ruft: „Hipphipp …“; die Menge: „Hurra!“. Er ruft: „Sieg …“; die Menge: „…heil!“ Ein Raunen geistert durch den Saal. Buchardt winkt ab: „Das darf doch nicht wahr sein, Mensch! Was? So viele alte Kameraden heute Abend hier?“ Halb lacht die Menge, halb versinkt sie in ihren Stühlen vor Scham. Frack und Fliege, Abendkleid, ganz ohne Clowns-Maske sitzt da die ungeschminkte Bürgerlichkeit, die sich irgendwie ertappt fühlt. Auch das ist Karneval. Der Ball, die Bütt und das Gericht über die Biedermänner.
In der Millionenstadt, in der durch jedes Viertel ein eigener „Zuch“ zieht, in der am Rosenmontag keine Behörde und keine Firma zu erreichen ist, dort arbeitet die Historikerin Johanna Cremer. Anruf an einem Mittwoch – wie ist die Lage? „Jetzt spürt man schon die freudige Erwartung vor dem Start des Straßenkarnevals, der beginnt hier morgen an Wieverfastlovend. Ganz Köln ist in Vorbereitungen.“ sagt sie und lacht. Und was zur Vorbereitung gehört, weiß die Expertin: „Oft verkleiden sich die Menschen, ohne zu wissen, woher diese Tradition rührt, welche Funktion das Kostüm im Karneval übernimmt und welche Rolle auch die Semantik von Kleidung in diesem Zusammenhang spielt.“ Cremer hält dagegen. Sie arbeitet bei der Stadt Köln, in der Abteilung für Kölnisches Brauchtum, als Pflegerin der Tradition.
Das Geschäft mit Fasching und Karneval lässt die Wirtschaft rotieren
Die Garde der Roten Funken, die Dreispitzhüte, dazu das Dreigestirn von Prinz, Bauer und der Jungfrau mit Zöpfen (in diesem Jahr spielt die Rolle ein Kölscher Gas- und Wasserinstallateur) – woher kommt dieses Spiel? „Seine Geburtsstunde hatte der organisierte Kölner Karneval vor mehr als 200 Jahren, im Jahr 1823. Damals drohte den Narren und Närrinnen ein Feierverbot, die preußische Obrigkeit wollte dem ungeordneten Treiben auf der Straße ein Ende bereiten.“ Und um das schlimmste zu vermeiden, sortierten sich die Karnevalisten: „Deshalb zog am 10. Februar der erste organisierte Maskenzug über den Kölner Neumarkt, der Vorläufer des heutigen Rosenmontagszugs.“ Und deshalb steckt in den Traditions-Kostümen einerseits die preußische Disziplin. Andererseits auch ein gutes Stück Satire gegen die militärischen Obrigkeiten, wenn die Karnevalssoldaten aufmarschieren.
Aber selbst in Köln ziehen Geister der Zeit durch die Straßen. Auch Cremer beobachtet, was der Kommerz mit dem Karneval treibt. Die Zahlen sprechen für das große Geschäft: Der Karneval hat in der Saison 2022/2023 einen Umsatz von bundesweit mehr als 1,7 Milliarden Euro aufgebwirbelt. Allein durch den Verkauf von Kostümen und Süßem machte der Einzelhandel wohl gut 360 Millionen Euro an Umsatz, erklärte das Institut der deutschen Wirtschaft. Festtage in den Karnevalsgeschäften, Festtage in den Straßen.
„Wenn man ab Weiberfastnacht ohne Kostüm auf den Kölner Straßen unterwegs ist, dann fällt man unter den Jecken und Jeckinnen auf. Man ist kein integrierter Teil der temporären Gemeinschaft der Feiernden“, erklärt Cremer. Und das gilt auch für andere Karnevalsstädte, ob Mainz oder Rottweil, oder jedes alemannische Dorf mit Fastnachtstreiben. „Es gibt feine Unterschiede im traditionellen Erscheinungsbild der Jecken und Jeckinnen in den deutschen Fastnachts- und Karnevalsregionen“, sagt Cremer. Während maskierte Geister durch schwäbische und fränkische Dörfer spuken, zeigen Kölner ihr Gesicht, in „partieller Kostümierung“.
Auftritt als Otto von Bismarck: Auch Markus Söder verkleidet sich
Jenseits der Tradition fällt Cremer aber eine Entwicklung auf, wenn sie über die Karnevals-Menge blickt: Platte Klischee-Figuren sieht man heute seltener im Straßenkarneval „Die Sensibilität in der Gesellschaft für sogenannte ‘ethnische Kostüme’ steigt.“ Und das findet sie richtig so. Auch der Karneval lernt aus der Geschichte.
Ein Kanzler zu Gast bei Narren, Prunksitzung in Veitshöchheim 2024: Otto von Bismarck, der alte Reichskanzler, versteckt sein Lächeln – falls ihm überhaupt eines über die Lippen schleicht – hinter seinem Walrossbart. Und hinter diesem Bismarck-Kostüm versteckt sich: Markus Söder. So sitzt Bayerns Ministerpräsident im Publikum, als nicht ganz so Gleicher unter Gleichen. Landtagspräsidentin Ilse Aigner hat sich verkleidet als Zirkusdompteurin, Söders Vize Hubert Aiwanger als Handwerker. Und während auf der Empore der Elfer-Rat mit Spitzhüten tagt, streunen bunte Masken-Hexen durch den Saal und strecken ihre Zungen ins Bild. Alemannisch? Fränkisch? Ein bisschen Kölsch? Die Zeiten sind jeck.