Sie sind in einer angespannten Situation, in der Israel gegen die Terrororganisation Hamas Krieg führt, nach Deutschland zu Lesungen gereist. Wie sind die bisherigen Termine gelaufen?
Zeruya Shalev : Sehr gut. Die Leute waren begeistert und haben sehr warm reagiert. Es war wirklich angenehm. Und was für mich auch wichtig ist: Sie haben sich mit Israel solidarisch gezeigt.
Anlass der Lesungen ist die deutsche Erstausgabe Ihres Debütromans „Nicht ich“. Sie haben Ihre erzählerische Laufbahn mit hochpersönlichen Geschichten begonnen, und erst in Ihren letzten beiden Romanen hat das politische Geschehen Israels Reflex darin gefunden. Wie erklärt sich das?
Shalev: Meine Beziehung als Erzählerin zur israelischen Politik hat eine lange Entwicklung durchgemacht. Am Anfang meiner Karriere habe ich darauf bestanden, eine Mauer zwischen meiner Literatur und der Lage Israels zu errichten. Denn die Realität unseres Landes ist so heftig und intensiv, dass sie alles in sich aufsaugen kann. Und so habe ich mir gesagt: Diese Realität soll nicht auch noch mein Schreiben kontrollieren. Ich will über das schreiben, was mich interessiert – nämlich das emotionale Innenleben von Menschen. Das war gewissermaßen meine persönliche Rebellion gegen unsere Alltagswirklichkeit – und auch gegen die Erwartungen, die an mich gerichtet wurden. So oft wurde ich gefragt: Wie kannst du in Israel leben, ohne die Situation dort zu beschreiben? Andererseits – wer sagt, dass wir uns nicht verändern sollen? Nachdem ich meine Trilogie mit „Späte Familie“ beendet hatte, hatte ich das Gefühl, dass in mir neue Fenster aufgegangen waren. So hat die Wirklichkeit unseres Landes schrittweise Einzug in meine Bücher gehalten. Aber eigentlich war nicht ich es, die sie hineingelassen hat. Es waren meine Protagonisten, die einen stärkeren Bezug dazu hatten, und ich versuche immer das zu tun, was für meine Figuren richtig ist. Das begann mit „Schmerz“ und sollte mit meinem neuen Roman weitergehen, der von einer Richterin handelt. Allerdings kann ich nach dem Angriff des 7. Oktober derzeit nicht arbeiten.
Könnten Sie sich denn vorstellen, den Horror dieser Ereignisse eines Tages in Ihrer Literatur zu verarbeiten?
Shalev: Ja, das kann ich. Aber Literatur braucht Perspektive und zeitliche Distanz. Momentan vermag ich mir nicht vorzustellen, wann und wie das geschehen wird. Abgesehen davon plane ich meine Bücher nicht im Voraus. Sie entwickeln sich spontan.
Dabei schien Ihre Karriere als Erzählerin schon bei Ihrem Debüt beendet. „Nicht ich“ wurde bei seiner Veröffentlichung vor fast 30 Jahren von der israelischen Kritik verrissen, während es heute bejubelt wird. Wie haben Sie das seinerzeit erlebt?
Shalev: Es war extrem schwierig für mich, zumal ich noch jung und unerfahren war. Ich hatte vorher nur einen Gedichtband veröffentlicht, der auf sehr positive Resonanz gestoßen war. Ich war auf diese wütenden und erniedrigenden Kritiken nicht vorbereitet. Und ich machte mir große Sorgen um meine berufliche Zukunft. Denn ich arbeitete als Lektorin in einem Verlag, und ich fürchtete, dass nach diesen Verrissen kein Autor mehr mit mir arbeiten wollen würde.
Aber dann machten Sie weiter und schrieben „Liebesleben“, ein Welterfolg ...
Shalev: Ich hatte das große Glück, dass ich meinen Ehemann Eyal Megged an meiner Seite hatte. Er kommt aus einer Familie von Autoren und er war diese Art von Konfrontation mit der Kritik eher gewohnt. Er ermutigte mich die ganze Zeit und sagte mir immer wieder, dass ich nicht aufgeben und diese Rezensionen nicht so ernst nehmen solle. Das hat mir enorm geholfen. Und so begann ich dann wieder mit dem Schreiben.
Sie wurden von Journalisten als „Schmerzensmeisterin“ bezeichnet. Auch die Protagonistin von „Nicht ich“ wird vom Konflikt einer Trennung förmlich zerrissen. Ist diese Titulierung gerechtfertigt?
Shalev: Das ist schwer zu sagen. Aber ich gebe zu, dass ich dazu neige, über Krisen und Schmerz zu schreiben. Nicht weil ich mich selbst und die Leser traurig machen will, sondern weil ich glaube, dass uns die Erfahrung von Leid Empathie und Verständnis lehrt. Und das war eigentlich immer so. Ich schrieb schon als Mädchen Gedichte, und die waren tieftraurig. Zuerst handelten sie von Hunden oder Katzen, die starben oder verloren gingen, danach schrieb ich über gefallene Soldaten und Eltern, die ihre Söhne verloren hatten. Meine Mutter, mit der ich ein sehr enges Verhältnis hatte, war die Erste, der ich die Texte zeigte. Und sie konnte sie nicht ertragen, obwohl sie mich eigentlich ermutigte, zu schreiben. Aber sie meinte: Was ist mit falsch mit dir? Wobei sie im Grunde sehr viel mit dieser Themenwahl zu tun hatte.
Inwiefern?
Shalev: Sie hatte ihren ersten Mann im Unabhängigkeitskrieg 1948 verloren. Ich wurde elf Jahre später geboren, nachdem sie wieder geheiratet hatte. Aber im Kopf blieb sie immer Witwe. Sie erzählte mir sehr viel über den Tod ihres ersten Mannes und die Depressionen, an denen sie danach litt. Diese Geschichten waren Teil meiner Kindheit – verbunden mit der schwierigen Situation Israels insgesamt.
Nun hat sich die Bedrohungssituation Israels erneut zugespitzt. Was sollten die Menschen im Westen zur Situation Ihres Landes verstehen?
Shalev: Viele Menschen in den westlichen Ländern sind nicht richtig informiert und haben einen falschen Eindruck von den Israelis. Ich spreche jetzt nicht von unserer aktuellen Regierung, sondern von den Menschen. Die meisten würden liebend gerne Frieden mit den Palästinensern haben und wären völlig mit einem palästinensischen Staat einverstanden. Aber nur unter der Voraussetzung, dass dann Frieden herrscht. Die Besetzung des Westjordanlandes ist eine Tragödie, aber wir konnten eben bislang kein Vertrauen haben, dass danach nicht ein Hamas- oder sonstiger Terrorstaat entsteht. Wir haben ja gesehen, was am 7. Oktober geschehen ist – nach einem Angriff aus dem Gazastreifen, der nicht von Israelis besetzt ist. Die Hamas will nicht einfach einen Staat neben Israel, sondern anstatt von Israel. Sie wollen uns alle umbringen. Sie sind diejenigen, die einen Genozid vorhaben. Sie sagen das sogar ganz offen, dass sie Angriffe wie vom 7. Oktober wiederholen wollen. Israel muss sich und seine Bürger also verteidigen. Und leider unterstützen viele Palästinenser, wenngleich nicht alle, die Hamas.
Viele westliche Künstler und Intellektuelle zeigen für die Nöte der israelischen Seite kein Verständnis und erklären sich mit den Palästinensern pauschal für solidarisch ...
Shalev: Was mich zutiefst überrascht hat. Ich fühle mich verraten und verzweifelt. Wie kann man die Gräueltaten der Hamas nur ignorieren? Wie kann man eine Vereinigung unterstützen, die LGBTQ-Community verfolgt und Frauen misshandelt? Es ist völlig absurd. Ich spreche jetzt nicht nur von den Intellektuellen, sondern auch von den internationalen Frauenorganisationen. Wie können sie angesichts der sexuellen Gewalt, die die israelischen Frauen und auch Männer am 7. Oktober erleben und der die Geiseln immer noch ausgesetzt sind, einfach schweigen? Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Man muss begreifen: Das ist nicht einfach ein Konflikt zwischen uns und der Hamas, sondern zwischen dem fundamentalistischen Islam und modernen, aufgeklärten Staaten. Diese Leute wollen auch die westlichen Länder erobern. Wenn wir sie nicht in Israel aufhalten, werden sie nicht stoppen. Effektiv ist das kein Krieg zwischen Juden und Arabern, sondern zwischen Extremisten und gemäßigten Kräften. Und unser Ziel muss es sein, eine Koalition zwischen Ländern und Organisationen zu schaffen, die diese gemäßigten Positionen vertreten.
Die Kritik an Israel wird ja oft an den zivilen Opfern des Gazakriegs festgemacht ...
Shalev: Natürlich sind die vielen zivilen Toten in Gaza eine große Tragödie. Aber es ist die Hamas, die dafür die Verantwortung trägt. Diese Leute benutzen die Zivilbevölkerung als menschliche Schilde, sie verstecken sich in Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern. Was würden Sie tun, wenn Sie sie bekämpfen müssen? Das ist unglaublich schwierig.
Sie meinten, dass Sie seit den Ereignissen des 7. Oktobers nicht mehr an ihrem aktuellen Roman weiterschreiben können. Wie können Sie die Arbeit wieder aufnehmen?
Shalev: Momentan weiß ich keine Antwort darauf. Ich hatte fast ein halbes Jahr lang daran geschrieben und lang recherchiert, aber momentan fühlt er sich nicht für mich relevant an. Ich werde darüber wieder nachdenken, wenn ich aus Deutschland zurück bin.
Gibt Ihnen aktuell etwas Hoffnung, dass sich die generelle Situation wieder bessert?
Shalev : Zugegebenermaßen hat dieser heutige Tag – wir haben den 29. Januar – nicht hoffnungsvoll für mich begonnen. Es ist jetzt genau 20 Jahre her, dass ich bei einem Anschlag verletzt wurde, und vorher bekam ich die Nachricht, dass in Haifa, wo ich lebe, ein Terrorakt verübt worden ist. Aber ich habe in Haifa an verschiedenen Treffen zwischen Juden und Arabern teilgenommen, und wir tun unser Bestes, um unsere Solidarität zu wahren. Diese Treffen und Begegnungen machen mir Hoffnung. So hoffe ich auch, dass wir eine neue Regierung bekommen und sich die palästinensische Führung mäßigen wird. Ich spreche nicht von der Hamas, denn die muss aus dem Spiel genommen werden. Mit der Hilfe der USA, der gemäßigten arabischen Staaten und Europas sollten wir eine neue Regierung für Gaza finden, das wieder aufgebaut werden muss – mit vielen Investitionen, die diesmal nicht wieder in Tunnel und Waffen fließen dürfen. Und wie gesagt: Wir müssen uns bewusst machen: Das ist ein Krieg gegen den Extremismus. Wenn sich die richtigen Kräfte zusammenschließen, dann kann nicht nur der Nahe Osten, sondern auch die ganze Welt ein besserer Ort werden. Denn das ist kein lokales, sondern ein globales Thema. Aber dafür brauchen wir viel internationale Unterstützung.