Herr Menasse, die CDU hat auf ihrem Parteitag vor ein paar Wochen ihr neues Grundsatzprogramm und mit ihm eine sogenannte deutsche "Leitkultur" beschlossen. Kein Mensch in Deutschland weiß, was genau das sein soll. Was aber denkt ein Europäer mit Wohnsitz in Wien darüber? Vor allem, wo sich die CDU zugutehält, eine sehr europäisch orientierte Partei zu sein?
Robert Menasse: Eine Leitkultur ist eine geschichtsvergessene, ideologische und nationale Weltsicht. Und ich verstehe überhaupt nicht, wie eine dezidiert proeuropäische Partei wie die Christdemokraten auf diesen Unsinn hereinfallen können, um vermehrt Wählerstimmen zu bekommen. Die europäische Idee ist grundsätzlich eine der Vielfalt. Es gibt keine Biodeutschen mit einer einheimischen nur den Deutschen gehörenden Kultur und Identität. Und in Zeiten von so enormen Migrationsbewegungen, wie sie schon seit längerer Zeit zu beobachten sind, ist es vollkommen grotesk, eine Leitkultur auch nur als Idee zu formulieren.
Vermissen Sie manchmal Helmut Kohl, der – trotz allem – der letzte große Europäer der deutschen Politik war?
Menasse: Der Helmut Kohl war zumindest einer der Politiker – und in Deutschland möchte ich fast behaupten der letzte – der noch wusste, dass deutsche Politik, dass deutsche Innenpolitik immer auch Europapolitik sein muss. Man muss gar nicht mit allen politischen Positionen von Helmut Kohl übereingestimmt haben, aber es war nicht nur wichtig, sondern geradezu bewundernswert, wie das für ihn das klare Fundament seiner Politik war. Ich vermisse die Einsicht in diese Notwendigkeit, europapolitisch zu denken, auch wenn man Mitglied einer deutschen Regierung ist.
Wo sehen Sie heute in Europa noch Politiker, die das Format oder zumindest das Potenzial hätten, die Europäische Union fortzuentwickeln?
Menasse: Emmanuel Macron, der französische Präsident, versucht immer wieder ein europapolitisches Programm zu denken und zu verkünden. Und es ist bezeichnend, dass er vonseiten Deutschlands immer damit alleine gelassen wird, dass es darauf keine Reaktionen gibt. Angela Merkel hat auf seine berühmte Sorbonne-Rede überhaupt nicht reagiert. Und auch auf Macrons zweite Sorbonne-Rede von vor wenigen Wochen gibt es von der aktuellen Bundesregierung so gut wie keine Reaktion. Dazu noch zwei Dinge.
Bitte sehr…
Menasse: Es gibt diese Position, die immer wieder formuliert wird, in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, dass es der EU gut geht und sie vorankommt, wenn die Achse Frankreich-Deutschland funktioniert. Zudem wird immer wieder gesagt, dass beide Länder – auch Deutschland – eine Führungsrolle in der EU einnehmen sollen.
Für den deutsch-französischen Motor gibt es jedenfalls gute Argumente.
Menasse: Da ist etwas Wahres dran, hat aber den kleinen Schönheitsfehler, dass das europäische Einigungsprojekt auch unter anderem genau deshalb gestartet wurde, damit Deutschland nie wieder eine Führungsrolle übernimmt. Ich lehne eine deutsche Führungsrolle zutiefst ab. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum Bürger kleinerer europäischer Staaten eine solche Führungsrolle akzeptieren sollten. Von Politikern, die sie nicht wählen und abwählen können. Das ist – vor allem im Lichte der europäischen Geschichte – ein No-Go. Andererseits heißt das nicht, dass Deutschland nicht Impulse geben soll, wenn in Frankreich oder anderswo Ideen für die notwendige Weiterentwicklung des europäischen Projekts lanciert werden. Wenn stattdessen nach Macrons Rede der Kanzler nicht reagiert…
… in einem Tweet schrieb er doch zumindest von "guten Impulsen"…
Menasse: … und in der deutschen Öffentlichkeit vor allem diskutiert wird, was "uns Deutsche" die Vorschläge Macrons kosten, dann ist das erbärmlich. Das ist wirklich erbärmlich! Wenn statt einer produktiven Diskussion über die Entwicklung der Europäischen Union, statt einer Auseinandersetzung über die Gründe der europäischen Blockade eine deutsche Leitkultur-Debatte gestartet wird, dann muss man sich als Europäer wirklich Sorgen machen: Wegen der Renationalisierung der europäischen Mitgliedsstaaten im Allgemeinen und wegen des Wachsens der AfD in Deutschland. Das sind ja nur Aspekte des Gesamtzustandes, in dem die politische Mitte europapolitisch versagt. Und noch eine letzte Bemerkung zu dieser unseligen Leitkultur: Ortega y Gasset…
… der spanische Philosoph…
Menasse: … der nun wirklich nicht im Verdacht steht, ein linker Multi-Kulti gewesen zu sein, sondern der ein konservativer europäischer Philosoph war, hat in seinem Hauptwerk "Der Aufstand der Massen" 1930 darauf hingewiesen, dass es überhaupt keine Nation in Europa gibt, die irgendeine Form von Kultur oder Geist exklusiv für sich beanspruchen kann. Er hat sinngemäß geschrieben: Wenn wir uns versuchsweise vorstellten, wir sollten lediglich mit dem leben, was wir als Nationale sind, was unsere nationale Identität ist, das nationale Fundament – und wenn wir uns dann vorstellten, alles wegzustreichen, was wir von anderen übernommen haben, dann würden wir feststellen, dass eine solche Existenz weder möglich noch denkbar sei. Ortega y Gasset im Jahr 1930. Und wenn heute konservative Politiker hinter eine solche Einsicht, die fast 100 Jahre alt ist, zurückfallen, was sagt das über deren Zukunftsfähigkeit aus?
Und sehen Sie – viel rumgekommen auf dem Kontinent – außer Macron niemand, der Europa eine Sprache geben könnte?
Menasse: Es gibt im Moment in den politischen Eliten in ganz Europa niemanden. Ich sehe niemanden. Es gibt dezidiert proeuropäische Initiativen, es gibt zum Beispiel die explizit proeuropäische Partei Volt. Aber man muss leider feststellen, dass es für diese Initiativen im derzeitigen politischen Klima ungeheuer schwer ist, sich Gehör zu verschaffen. Von den nationalen Parlamenten wird derzeit vollkommen anders definiert, was europapolitisch notwendig wäre. Es geht um die Verteidigung nationaler Solidarität, um die Definition nationaler Leitkultur, um die Verteidigung sogenannter nationaler Interessen, es geht um Standort-Politik.
Eine Umfrage des Bayerischen Rundfunks hat unlängst ergeben, dass 57 Prozent der Befragten an der Europawahl stark oder sehr stark interessiert sind. Mehr als im Bundesschnitt. Allerdings: Vor fünf Jahren waren es noch 66 Prozent.
Menasse: Die bayerische Selbstgenügsamkeit ist so schwierig zu verletzen, wie man eine Lederhose mit einer Feile durchstoßen kann. Aber nochmals zurück zum schweigsamen Kanzler, der Scheu hat, sich klarer im Hinblick auf Gefahren für Europa zu positionieren. Bekanntlich hat Deutschland eine Rüstungsindustrie. Kaum gibt es einen Krieg in Europa, nämlich in der Ukraine, hört man diesbezüglich überhaupt nichts. Kaum ist es notwendig, einem Aggressor, der wirklich Europa bedroht, entgegenzutreten, wird vom Kanzler gezögert und gezaudert.
Die deutsche Rüstungsindustrie steht bereit, aber es müssten mehr Aufträge kommen und das Sondervermögen ist schon aufgebraucht.
Menasse: Worauf ich hinauswill: Die Auftragslage für die deutsche Rüstungsindustrie war sehr gut, als es darum ging, Griechenland auszurüsten. Ein Nato-Mitglied. Aufrüsten gegen die Türkei, die auch ein Nato-Mitglied ist. Und das führte dann zur griechischen Haushaltskrise, in der deutsche Zeitungen schrieben, die Griechen hätten über ihre Verhältnisse gelebt und bräuchten unglaublich viel Geld. Was sie aber brauchten, um die Schulden in Deutschland zu bezahlen. Gleichzeitig sorgte Deutschland dafür, dass das griechische Bildungssystem, das Gesundheitssystem und das Pensionssystem zusammengekürzt wurde. Da haben sich die über die Verhältnisse lebenden Griechen sehr gefreut.
Mit Verlaub: Dass die Griechen inzwischen ein schönes Wirtschaftswachstum haben, zeigt aber doch, dass die Rosskur nicht schlecht war.
Menasse: Wirtschaftswachstum von einem niedrigen Stand aus ist immer größer als von einem wohlhabenden. Aber es geht ja nicht nur um Wachstum, sondern auch um Verteilungsgerechtigkeit. Es müssen doch zwei Dinge endlich begriffen werden: Es kann auf einem gemeinsamen europäischen Markt mit einer gemeinsamen Währung keine nationalökonomischen Bilanzen geben. Das ist ein vollkommener Unsinn. Nationalökonomie ist ein toter Gegenstand. Dagegen ist ja die Paläontologie eine zeitgenössische Forschungsinstitution. Und zweitens: Ökonomische Bilanzen ohne Einrechnen der Verteilungsschlüssel ist nicht nur ein Unsinn, sondern blanker Zynismus.
Sie beklagen die Renationalisierung. Andererseits sind politische Fortschritte in der Europäischen Union vor allem durch Druck von außen entstanden – etwa wenn man aktuell auf die so zaghaften wie unzureichenden Versuche einer gemeinsamen Verteidigungspolitik nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine blickt. Das erinnert doch stark an nationalistische Funktionsweisen. Und ist das nicht paradox mit Blick darauf, dass Sie die Zukunft im Nach-Nationalen sehen?
Menasse: Ja. Einerseits waren alle großen Fortschritte in der Entwicklung der Europäischen Union Folge des Drucks von außen. Andererseits geht es nur nach-national: Ich meine: Jedem denkenden Gemüt ist die längste Zeit klar, dass die schöne Idee eines Friedensprojekts Europa umfassend nur Sinn macht, wenn der Friede wehrhaft ist, wenn man ihn verteidigen kann. Nur hat das die längste Zeit keine nationale Regierung für notwendig erachtet. Vielmehr hat jede nationale Regierung auch die nationale Souveränität seiner eigenen Verteidigungspolitik schützen wollen. Es hat sich ein französischer General nicht vorstellen können, dass französische Soldaten unter Umständen unter dem Befehl eines deutschen Offiziers stehen könnten. Dergleichen ist im Hinblick auf die europäische Idee vollkommen infantil. Jetzt, wo wir den Aggressor in der Ukraine erleben, jetzt kommt es auf den Tisch. Jetzt geht es endlich um die Erringung einer gesamteuropäischen Souveränität. Ein jahrelanges Versäumnis.
Nur, dass die Zeit davonläuft. Zugespitzt: Muss die Ukraine erst fallen, damit die EU tatsächlich wehrhaft und souverän wird? Oder ist es dann nicht längst zu spät?
Menasse: Je früher wir darüber zu diskutieren beginnen, wie wir eine europäische Sicherheitspolitik entwickeln können, umso besser.
Sehen Sie bei aller Skepsis, die sie formuliert haben, überhaupt Fortschritt in der EU?
Menasse: Die EU, so wie sie institutionell aufgestellt ist, hat unproduktive Widersprüche, die jeden Fortschritt blockieren und die zu immer dramatischeren Konsequenzen führen. Ich sehe, dass zumindest bei gewissen Teilen der politischen Beobachter und Eliten diese Einsicht wächst. Wir müssen uns mit dem dramatischen Grundwiderspruch der EU auseinandersetzen: Die EU ist einerseits eine nach-nationale Entwicklung, die bewusst begonnen wurde und uns verblüffend weit getragen hat. Auf der anderen Seite steht die Renationalisierung der europäischen Mitgliedsstaaten bis hin zu dem Versuch, sich Rechte von der EU zurückzuholen. Da kann es aber keinen Kompromiss geben. Das ist wie schwanger oder nicht schwanger. Ein bisschen schwanger gibt es nicht.
Welche Rolle spielt denn für Sie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen?
Menasse: Egal wie dramatisch oder wenig dramatisch die prozentuellen Verschiebungen bei der Europawahl sein werden – sollte die Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin bestätigt werden, wird es mir extrem schwerfallen, im Hinblick auf die europäische Entwicklung Optimist zu bleiben. Denn sie ist Präsidentin der Institution geworden, die die Aufgabe hat, die Verträge zu hüten und vor allem eine Gemeinschaftspolitik zu entwickeln. Das heißt: Die Europäische Kommission ist per se in Widerspruch zum Europäischen Rat der nationalen Staats- und Regierungschefs. Wenn aber die Kommissionspräsidentin von den nationalen Staats- und Regierungschefs ausgeschnapselt und eingesetzt wird, dann kann sie ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr frei erfüllen. Das hat man zuletzt dramatisch gesehen. Sie war immer willfährig gegenüber dem Europäischen Rat, hatte aber doch den Ehrgeiz, etwas Historisches zu hinterlassen, nämlich den Green Deal. Und dann kommt die CDU und sagt, den musst Du Dir abschminken, weil der Wirtschaftswachstum bremst und sie sagt: Klar, ich wollte mich sowieso gerade abschminken. Das ist so erbärmlich, ein bedrohliches Symptom und das Gegenteil einer wünschenswerten Europapolitik.
Frau von der Leyen ist als Kommissionspräsidentin das Demokratiedefizit auf zwei Beinen, woran Macron übrigens seinen Anteil hat. Was also muss sich zeitnah ändern, damit etwas vorangeht?
Menasse: Die EU-Verträge müssen wieder eingehalten werden. Also der Europäische Rat, die Regierungschefs, müssen sich wieder an die Verträge halten. Sprich: Er darf nur als Impulsgeber und nicht als Gesetzgeber auftreten. Das EU-Parlament muss endlich das Initiativ-Recht bekommen. Und: Der Primat der Kommission gegenüber dem Rat muss sichergestellt werden. Dann muss beendet werden, dass jeder Mitgliedstaat einen Vertreter in die Kommission entsendet – nicht nur, um zu vermeiden, dass die Kommission bei einer Erweiterung immer größer wird. Vielmehr sollte sie im Gegenteil endlich kleiner werden. Vor allem, damit die Kommissare sich der Union und nicht dem Land verpflichtet fühlen, welches sie entsendet hat. Schließlich darf der oder die Kommissionspräsidentin nicht mehr von den Staatschefs bestimmt werden. Nur so wird dieses Amt unabhängig und kann tatsächlich eine Gemeinschaftspolitik entwickeln. Die Krisen, die da sind und die noch kommen, können nur gemeinschaftlich und nie nur national gelöst werden. Zu diesem Grundsatz müsste man endlich stehen. Und nicht sagen: Wir, die politische Mitte, imitieren den rechten Rand, sind aber nicht der rechte Rand. Das ist ja der Bock, der Gärtner sein will.
Wenn Sie jungen Europäern eine Interrail-Route vorschlagen dürften, welche würden Sie empfehlen?
Menasse: Es ist interessant, dass eine große Mehrheit deutscher Studenten, die Interrail-Tickets haben, immer nach Westen reist. Spanien und Frankreich sind die beliebtesten Routen. Dahin reisen sie aber dann ohnehin auch sonst. Ich würde deshalb empfehlen, den Osten zu bereisen. Da ist eine dediziert proeuropäische Jugend, die unter den nationalistischen Regierungen erstickt. Ich habe eine große Sympathie für den Balkan, seit ich diese Region bereist habe, weil dort die Hoffnung auf Europa wirklich groß ist. Der Balkan war immer eine Krisenregion. Wer, wenn nicht das Friedensprojekt Europa, könnte diese Region befrieden? Und wer, wenn nicht diese Länder, könnte Europa mit einem Optimismus impfen, der jetzt so dringend notwendig ist.
Die Route geht also von Tallinn nach Tirana?
Menasse: Das ist spannend.
Zur Person: Robert Menasse, 1954 in Wien geboren, promovierter Germanist, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Autor der EU-Romane "Die Hauptstadt" sowie die "Erweiterung" hat zuletzt die Streitschrift "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde" (Suhrkamp Verlag, 192 Seiten) veröffentlicht. Für den Roman "Die Hauptstadt" wurde er 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Die Jury schrieb in ihrer Begründung: "Dramaturgisch gekonnt gräbt er leichthändig in den Tiefenschichten jener Welt, die wir die unsere nennen. Und macht unter anderem unmissverständlich klar: Die Ökonomie allein, sie wird uns keine friedliche Zukunft sichern können. Die, die dieses Friedensprojekt Europa unterhöhlen, sie sitzen unter uns – ‚die anderen‘, das sind nicht selten wir selbst."