
Professor de Waal, Sie erforschen seit vielen Jahren das Verhalten der Menschenaffen, unseren nächsten Verwandten. Jetzt mag man sich laienhaft fragen, warum das so bedeutend sein soll. Aber wenn man Ihr Buch liest, kommen Dinge zur Sprache, die uns als Menschen unglaublich erschüttern können. Etwa wenn Schimpansen sich konkret zum Mord verabreden, regelrechte Kriege gegen andere Schimpansengruppen führen. An vielen Stellen Ihres Buches sehen wir uns auf eine sprachlos machende Weise selbst. Geht Ihnen das heute auch noch so?
Frans de Waal: Wir können schon seit langem beobachten, dass beispielsweise Schimpansenmänner Gewalt gegen andere Schimpansenmänner ausüben. Und das hat klare Parallelitäten zu unserer menschlichen Gesellschaft, in denen ebenfalls in erster Linie Männer Gewalt ausüben – egal, in welche Landesstatistik sie nun gerade schauen. Das ist bei Schimpansen nicht anders. Und in der Tat, das erschreckt auch mich bis heute. Es gibt allerdings bei den Schimpansen eine interessante Besonderheit.
Welche ist das?
De Waal: Nun, grundsätzlich gibt es vier Menschenaffenarten: Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen samt den etwas kleineren, aber ihnen nahestehenden Bonobos – und den Menschen, der zoologisch auch zu den Menschenaffen gehört. Während nun aber Schimpansen tödliche Gewalt gegeneinander ausüben, was auch gut dokumentiert ist, sind die ihnen verwandten Bonobos sehr friedlich. Von 152 tödlich verlaufenen Auseinandersetzungen, die wir in der Natur beobachteten, fanden 151 bei Schimpansen statt und nur einer bei Bonobos. Letztere sind bedeutend friedlicher. Es sind also nicht alle Menschenaffen gleich gewalttätig.
Menschenaffen, die vorsätzlich töten oder andere Affensippen attackieren: Ist das letztlich nicht ein Hinweis dafür, dass die Natur einfach so ist, eben „böse“? Ist dies der Urgrund des „Bösen“, das dem Menschen innewohnt?
De Waal: Das sehe ich nicht so. Es gibt nämlich auf der anderen Seite auch sehr viel soziales Verhalten und Kooperation in der Natur. Selbst bei Schimpansen. Sie können sehr empathisch sein, sorgen sich um ihre Freunde und verteidigen sie zum Teil. Genauso wenig, wie man sagen kann, dass der Mensch nur böse ist, kann man das auch über die Natur sagen.
Kommen wir zunächst auf das zentrale Thema Ihres Buches zurück: das Verhältnis von Mann und Frau. Heute gibt es gesellschaftliche Gruppierungen, die meinen, Geschlecht sei nur eine soziale Konstruktion, Frauen etwa würden nur deshalb Frauen, weil man sie dazu macht, dazu erzieht, dazu sozialisiert. Sie schildern wissenschaftliche Beobachtungen, wonach aber Affenjungen umgehend mit Spielzeugautos spielen und Affenmädchen mit Puppen, wenn man ihnen beides zum Spielen anbietet. Ist das nicht der Beweis dafür, dass das Geschlecht in uns einfach angeboren ist?
De Waal: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Gender ist beides: kulturell und sozial beeinflusst – und auch Natur. Man kann das nicht streng auseinanderhalten. Die Forschung weiß heute: Es gibt kein rein instinktives und kein rein sozial beeinflusstes Verhalten. Schimpansen und Bonobos beispielsweise sind erst mit 16 körperlich erwachsen. So ähnlich wie bei Menschen lernen sie bis dahin viele Verhaltensweisen. Wir wissen sogar inzwischen, dass Affenmädchen, die nicht vorher bei Erwachsenen abschauen, wie sie Babys versorgen, später nicht wissen, wie sie ihre eigenen Babys versorgen sollen. Ja, sie vernachlässigen sie, gehen ungeschickt und gefährlich mit ihnen um.
Wie ist das mit Homosexualität?
De Waal: Bei den Bonobos beispielsweise gibt es keine klare Grenze dafür. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass sie insgesamt von Natur aus bisexuell sind. Ich würde außerdem sagen, dass auch in vielen Menschen beide Seiten – Hetero- und Homosexualität– wohnen. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Dass aber solche Tendenzen bei uns kulturell übertüncht werden. Weil eine klare Zuordnung gewünscht ist. Bei den Primaten kann man noch eher sehen, dass beides nebeneinandersteht.
Mit großer Überraschung ist in Ihrem Buch auch zu lesen, dass Affenmänner erregt reagieren können, wenn eine Menschenfrau vorbeigeht. Sie schildern sogar eine Vergewaltigung, bei der eine Frau auf Borneo in einer Forschungsstation von einem Orang-Utan vergewaltigt wurde. Woher kommt das? Menschenmänner werden von Affenfrauen im Regelfall ja nicht erregt. Wenn das doch der Fall ist, hätte man früher von einer eher seltenen krankhaften Neigung namens Sodomie gesprochen …
De Waal: Das stimmt so nicht. Zoos sehen sich manchmal mit dem Faktum konfrontiert, dass – auch wenn man das kaum glauben mag – durchaus Menschenmänner Sex mit weiblichen Affen haben wollen. Das wird bloß nicht öffentlich dargestellt, weil Zoos daran natürlich kein Interesse haben. Es gibt einen Fall aus dem Rotterdamer Zoo, wo ein Gorillamann Interesse an einer Menschenfrau entwickelte, die immer wieder im Zoo zu Besuch kam und mit ihm Blickkontakt aufnahm.
Ja, dieser Gorilla brach dann aus seinem Gehege aus und verletzte die Frau. In Ihrem Buch ist nachzulesen, dass vor allem die Welt der Schimpansen eine sehr männlich dominierte, gewalttätige ist. Die Welt der mit den Schimpansen direkt verwandten Bonobos hingegen ist eine weiblich geprägte, wenig gewalttätige. Woher kommt das?
De Waal: Das wissen wir nicht genau. Es gibt eine Theorie, die besagt, dass das mit dem Phänomen des Infantizids zu tun hat. Dabei tötet ein Männchen den Nachwuchs eines Weibchens (bevor es sich mit ihm paart, um die Überlebenschancen seines künftigen eigenen Nachwuchses mit dem Weibchen zu erhöhen, Anmerkung der Redaktion). Das kommt bei vielen Tierarten vor, etwa auch bei Bären oder Löwen. Bonobofrauen haben im Laufe vieler Generationen dann die Strategie entwickelt, sich zu großen Frauen-Kollektiven zusammenzutun, um Infantizide zu verhindern. Daraus entwickelte sich ein starkes kollektives Matriarchat.
Was können wir aus der Welt der Bonobos lernen?
De Waal: Wir können harmonisches, friedvolles Verhalten von ihnen lernen, sie gehen sehr empathisch miteinander um. Und sie zeigen auf beeindruckende Weise, dass weibliche Solidarität eine starke Waffe gegen gewalttätige Männer ist.
Sie schreiben, dass der Mensch nicht nur in Bezug auf nah verwandte Primaten, sondern auch insgesamt das einzige Lebewesen auf der Erde ist, das zum einen weiß, dass es einen Zusammenhang zwischen Sex und Geburt eines Nachkommens gibt. Das wissen beispielsweise Schimpansen nicht und ein männlicher Schimpanse hat überdies (im Gegensatz zur Mutter) keinerlei Ahnung, wer sein Sohn oder seine Tochter ist. Und zum anderen wissen Tiere nicht, dass sie einmal sterben werden. Ist das wirklich so?
De Waal: In der Tat haben wir keinerlei Hinweise, dass Primaten der Zusammenhang zwischen Sex und Kinderkriegen klar ist. Es liegt ja ein langes Intervall zwischen dem Zeitpunkt des Sexes und der Geburt des Nachwuchses. Und ähnlich sieht es mit dem eigenen Tod aus.
Gemeinhin sagt man Männern nach, dass sie hierarchisch denken, Frauen sagt man das weniger nach. Aber stimmt das überhaupt? Und wie ist die Situation bei unseren nahen Verwandten?
De Waal: Es ist ein komplettes Missverständnis, dass Männer Hierarchien ausbilden und Frauen eher nicht. Man kann überall beobachten, dass Frauen ebenfalls Hierarchien bilden. Aber es entstehen oft geschlechterspezifische Hierarchien – also untereinander von Frauen und untereinander von Männern. Beobachten kann man das etwa sehr gut bei Hühnern. Der Begriff „Hackordnung“ ist aus dem Verhalten der Hühner abgeleitet – und nicht von jenem der Hähne. Es gibt überall im Tierreich Alphafrauen. Das ist unstrittig. Männer konkurrieren lediglich physisch mehr mit Männern als Frauen mit Frauen. Und Männer verletzen sich dabei auch mehr. Aber Frauen-Hierarchien gibt es genauso.
Männer kümmern sich unterm Strich nach wie vor weniger um ihre Kinder als Frauen. Dieses Verhalten findet man auch bei den Primaten, oder? Gibt es Ausnahmen, dass sich ein Affenmann doch um ein Affenkind kümmert?
De Waal: In der Tat kümmern sich beispielsweise Schimpansenmänner so gut wie nicht um Kinder. Bis auf eine Ausnahme: Wenn die Mutter stirbt. Dann kommt es immer wieder vor, dass Schimpansenmänner die Waisenkinder regelrecht adoptieren und sogar über Jahre versorgen. Selbst Alphamänner. Also haben Schimpansenmänner grundsätzlich die Fähigkeit, auch Kinder aufzuziehen. Und bei Menschenmännern ist diese Fähigkeit aus meiner Sicht sogar noch deutlich stärker ausgeprägt. Wenn also manche sagen: Kinder großziehen ist nichts für Männer, sondern nur eine Sache der Frauen, dann sage ich, dass das offenkundig nicht stimmt.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse, die die Menschheit, die Frauen und Männer in ihrem Verhältnis aus der Beobachtung von Primaten gewinnen konnten?
De Waal: Es gibt ein großes Aufkommen an biologischen Unterschieden, die man nicht wegdiskutieren kann. Babys wachsen nun einmal im Körper einer Frau heran und sie wird auch mehr die erste Versorgung ihres Kindes übernehmen. Es gibt physische Unterschiede zwischen Mann und Frau, beispielsweise hormonell. Wer etwa sagt, man solle Kinder genderneutral aufziehen, der vergisst elementare Unterschiede. Männer sind in der Regel stärker als Frauen, das ist nun einmal so. Jungs und Männer sind zumeist stärker und größer und letztlich unterm Strich auch gewalttätiger als Mädchen, das lässt sich nicht durch eine geschlechterneutrale Erziehung unterdrücken. Der biologische Unterschied sollte respektiert werden. Zugleich haben dennoch kulturelle Einflüsse und das Lernen einen großen Einfluss darauf, wie sich ein Mensch oder auch ein Primat verhält.
Die Erforschung der Primaten ist sicherlich noch nicht vorbei. Was sind die nächsten Großprojekte der Primatologie?
De Waal: Ich denke, demnächst wird das Studium der Gefühle von Tieren eine größere Rolle spielen – ebenso die Wahrnehmung und der Verstand der Tiere. Neurowissenschaften werden zum Einsatz kommen, hoffentlich aber Untersuchungsmethoden, die nicht-invasiv sind, so wie bei uns Menschen. Das hat schon begonnen. Wissenschaftler trainieren derzeit Hunde und Makaken, in einem MRT still zu sitzen.