Nennen wir es der Einfachheit halber einen Mythos. Jedenfalls: Es ward einmal der Mensch. Und der sah sich in seinem Lebensraum allerlei Herausforderungen gegenüber, reichlich Fremdem, das er nicht verstand, vielem Gefährlichen, das ihn in seiner Existenz bedrohte. Er lernte, sich gegen manches zu wehren, gegen manches zu schützen – aber es blieben doch Schicksalskräfte in dieser Natur, die ihm einfach übermächtig wirkten. Zum Beispiel: Das Wetter konnte verheerend sein, das Klima lebensfeindlich werden. Was tun?
Wie bei den beiden anderen großen Fragen des Seins – Woher kommt das eigentlich alles? Und was kommt nach dem Tod? – schien es schon irgendwie zu helfen, diese Schicksalsmächte zu benennen und damit zu diesem übermächtigen Fremden zumindest einen Bezug erahnbar zu machen. Er schuf sich also Gott oder Götter und konnte fortan um Schonung bitten, sich in Demut üben und womöglich sogar auf Gnade hoffen, beten, dass das nächste Unheil, die nächste Katastrophe vielleicht nicht unbedingt ihn ereilen möge. Damit schien die schicksalsblinde Zufallsmacht irgendwie gebannt. Aber doch auch zu einem beträchtlichen Preis. Dann hatte der, den es nun mit Dürre oder Flut, Infektion oder Beben erwischte, es nicht als Botschaft von Gott oder Göttern zu verstehen. Wurde der Geschädigte gestraft, hatte er sein Unheil verdient?
Eine alte Frage neu belegt: Gibt es das Naturböse?
Die Frage entzündete etwa noch im Jahr 1755 die Gemüter, als ein grauenvoll verheerendes Erdbeben Lissabon traf – und wirkte, als wäre es eine Wiederkehr des biblischen Untergangs von Sodom und Gomorra. Siehe Genesis, der Herr zu Abraham: „Über die Leute von Sodom und Gomorra sind schwere Klagen zu mir gedrungen. Ihre Schuld schreit zum Himmel.“ Dass diese Erzählung womöglich auf eine Meteoritenexplosion um 1650 vor Christus zurückgeht, der womöglich nach schicksalhafter Einhegung verlangte und jedenfalls moralische Instrumentalisierung ermöglichte, sei hier auch erwähnt. Auch vor gut 250 Jahren aber also noch: Hatten die Menschen von Lissabon etwas getan, um sich das Leid zu verdienen? Wie konnte Gott das wollen oder zulassen? Oder konnte es so etwas wie das Naturböse geben?
Nur ist seitdem das Verstehen des Menschen im Allgemeinen weit ins vormals Fremde vorangeschritten, im Großen wie im Kleinen, was nicht heißt, dass der einzelne Mensch, auch versammelt in Weltkirchen und Gemeinden, nicht immer noch magische Abwehr- und Abbitte-Rituale pflegte. Mit dem bleibenden Recht, dass die Wissenschaft auch im 21. Jahrhundert bei allem Fortschritt noch längst nicht die volle Komplexität dessen durchdrungen, was das Kulturwesen Mensch da Natur nennt, längst nicht alle Fremdheit wegerklärt hat. Dadurch dass die Schicksalsmacht des Zufalls zur Berechenbarkeit von Wahrscheinlichkeiten gezähmt wurde, ist der Götterhimmel nicht geräumt.
Die Pointe in dem Mythos ist aber der Wissenschaft zu verdanken. Denn sie ist es nun, die dem Menschen Schuld am Unheil zuweist. Nicht auf die traditionelle Weise, dass der einzelne von Starkregenflut heimgesuchte Ort sich das mit seiner Sündhaftigkeit verdient habe wie die andere Region die anhaltende Dürre – sondern dass die Menschheit als Ganze mitverantwortlich ist für die Krisen auf dem Planeten.
Die Frage der Schuld stellt sich nun statt der Religion die Wissenschaft
In diesem Sommer 2023 scheint es doch, während hier in den Apps nur noch Hitzewelle- mit Temperatursturz- und Unwetter-Warnungen wechseln, in jeder neuen Unheilmeldung von irgendwoher mitzuschwingen: Der menschengemachte Klimawandel lässt die Extremwetterereignisse häufiger werden – die Kausalität bedeutet Schuld und Verantwortung. Die Natur ist der Gott, der straft, weil sich der Mensch gegen ihn versündigt hat. Oder: Wir selbst sind jetzt die Wettergötter – müssen bloß leider feststellen, dass das mehr Verantwortung als Macht bedeutet. Mythos oder Wissenschaft?
Geradezu als magische Abwehr- und Abbitte-Rituale können jedenfalls Aktionen verstanden werden, mittwochs vielleicht mal nur ein Wursträdchen auf die Brotzeit zu legen oder freitags das Auto vormittags mal stehen zu lassen. Dabei täten doch – geradezu klassisch religiös – Demut, Besinnung auf das Wesentlich und Umkehr Not, sagen die Klimabewegten aller Geschlechter, mit erhobenem Finger auf die aktuellsten Krisen deutend. Dass allerdings gerade die Kritiker des von 99 Prozent der Forschenden gestützten Befundes eines durch den Menschen mitverantworteten Klimawandels das Ganze mit dem Begriff einer Religion meinen brandmarken zu können, ist eigentlich drollig – wie sie da mit verklärtem Blick in den Wetterwechsel am Himmel das Lied vom Mythos des eigenen gesunden Menschenverstandes singen und von den menschenunabhängigen Schwankungen im erdgeschichtlichen Klima schwadronieren. Wissenschaft ist ja so was von Mainstream!
Ein erstaunlicher Satz zum neuen Menschheitsbewusstsein aber fand sich kürzlich in der Süddeutschen: „Fast die Hälfte der Menschheit lebt in Orten, in denen die Natur gefährlich nahe ist.“ Für den Großteil der erdgeschichtliche recht kurzen Zeit der Menschheit wäre ein solcher Befund geradezu lächerlich erschienen. Er passt aber eben ins neue Bewusstsein. Wir Wettergötter müssen uns womöglich vor unserer Schöpfung flüchten. Im Roman des in Augsburg lebenden Autors Thomas von Steinaecker leben die Menschen der Zukunft unter himmelhohen Glasdomen, innerhalb derer das Klima künstlich reguliert wird, während draußen postapokalyptisch das Wetterchaos tost. Die Götter haben zumindest überlebenssichernd Kontrolle über das erlangt, was von der Natur übrig geblieben ist. Das Buch heißt „Die Verteidigung des Paradieses“. Nennen wir es der Einfachheit halber einen Mythos. Denn das Paradies liegt nicht unter den Klimaglocken, sondern irgendwo hinter dem Chaos draußen, an einem bewahrten Ort, wo das Leben noch echt und ursprünglich ist – ein mörderischer Marsch beginnt.