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Gesellschaft
Von links, von rechts und um die Mitte: Der Kampf um die (richtige) Moral
Wokeness- und Klimaaktivisten wird gerne ihr Dogmatismus vorgeworfen – aber auch die Kritiker argumentieren mit fixen Wertesystemen. Die Frage ist: Zu wem gehören wir?
Wolfgang Schütz
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:15 Uhr

War das nun nicht mal wieder typisch in der vergangenen Woche? Da geißelt ein grüner Minister das weitverbreitete ungesunde Essen für Kinder und kündigt Verbote an, ist er sich doch sicher: Unsere Gesellschaft kann das nicht wollen, alle müssten hier doch das Richtige und das Gute erkennen. Und die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission versucht beim Aushandeln eines Wirtschaftsabkommens mit lateinamerikanischen Ländern noch eine gemeinsame Klausel unterzubekommen, in der man sich auf Umwelt- und Klimaschutz sowie auf die Wahrung der Menschenrechte festlegt. Wenn das nicht richtig und gut ist? 

Und dann entgegnet aber doch dem einen ein kämpferischer CSU-Chef, was Kinder essen und was nicht, das sollten doch bitte immer noch die Eltern entscheiden. Und die andere bekommt schlicht die kalte Schulter gezeigt: Nein, danke, behaltet eure Ideale mal schön für euch selbst. Der moralisierende Grüne in Deutschland, die moralisierende Deutsche in der Welt – hach, warum bloß sehen denn die anderen nicht auch das Richtige und Gute ein? 

Verhärtete Fronten fast wie im Kriegszustand

So typisch die Beispiele sein mögen und so tief das eine in unseren Alltag reicht, so global das andere ausgreift – es sind doch ziemlich harmlose Momente eines viel krasseren Zustands, den man durchaus als ähnlich dem eines Kriegs beschreiben kann, so verhärtet sind die moralischen Fronten. Und das ist nun nicht keine journalistische Zuspitzung, sondern der nüchterne Befund eines Philosophen und Psychologen. Man denke nur mal an die Auseinandersetzungen über Klimamaßnahmen und die Aktionen der Klimakleber,an die Hitzigkeit, die Gender-Fragen erzeugen– die Abgrenzungen werden wie die Reaktionen immer härter, die Haltungen rigoroser. Und längst nicht nur die der Aktivsten sind moralische – auch die Ablehnung fußt auf einem festen Wertsystem, das sich hier eben gegen die Erschütterung wehrt. Der Herr Söder tritt dem Herrn Özdemir als Hüter des freien Marktes und der Familie entgegen, der Herr da Silva der Frau von der Leyen als Wahrer der Unabhängigkeit und dem Fokus auf die eigenen Interessen. 

So ließe sich das ganze Spektrum auffächern. Gut und richtig ist für einen Merz zuallererst, was Deutschland stabilisiert, für einen Habeck, was uns zur Rettung der Welt beitragen lässt, für eine Frau Weidel, was die Deutschen aus der Welt und der Zeit rettet, für eine Frau Wagenknecht, was sozialistisch im Nationalen wirkt … 

Über all diese moralischen Standpunkte müsste sich eigentlich streiten lassen. Dass es kaum möglich, liegt laut dem Psychologen und Philosophen daran, dass wir völlig zersplittert sind in den Pathologien der Identitätspolitik. Soll heißen: Die Frage, zu wem wir gehören, und die Abgrenzung von den anderen, diese moralischen Auseinandersetzungen zweiter Ordnung machen uns unfähig, uns um die viel größeren, ja existenziellen erster Ordnung zu kümmern. Und Identität meint hier sowohl den rechten Klüngel wie die woke Blase von LGTBQIA+. Etwas Uraltes wird durch die Krisenhäufung und die existenzielle Ungewissheit in den Menschen wieder stark: die Rückversicherung einer Stammeszugehörigkeit und die radikale Konzentration auf die Interessen der eigenen Gruppe. Eine affektive Vertrauensbindung, wohl so etwas wie der Ursprung von Moral überhaupt.

Identitätspolitik links wie rechts kehrt die uralte Stammeszugehörigkeit ins Radikale

So sagt er Hanno Sauer jedenfalls, der Philosoph und Psychologe, der darüber ein Buch geschrieben hat, das die ganze Menschheitsgeschichte durchschreitet und heißt: „Moral – Die Erfindung von Gut und Böse“ (Piper, 26 Euro). Das Interessante daran: Eigentlich ist es eine Fortschrittsgeschichte. Denn von der Moral des Stammesinteresses haben wir als einziges Tier eine immer größere, immer weiter reichende Kooperationsfähigkeit entwickelt, auch mit Fremden, auch am anderen Ende der Welt. Vom Tribalismus, der einem konkurrierenden Stamm jedes Lebensrecht absprechen kann, in langen evolutionären Schritten der biologischen Erfahrung aber auch der Kultur in Richtung eines Universalismus, der im Ideal jedem Menschen die gleichen Grundrechte zuspricht – „die Skalierbarkeit der Maßstäbe“, eine menschliche Einzigartigkeit, die sich auch am Erfolg der globalisierten Wirtschaft zeige, an internationalen institutionellen Kooperationen, mit den wir unsere Natur ausgetrickst hätten, so Sauer, der Wokeness-unverdächtige Professor.

Und jetzt befänden wir uns am nächsten und letzten Level dieser Skalierung, der Frage nämlich, ob wir wirklich als relevant für unser Denken und Handeln die ganze Menschheit annehmen können, eine tatsächlich globale Kooperation hinbekommen angesichts der Alternative, unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen einzubüßen. Ob uns das beim ersten Versuch gelingt, in der Ungewissheit, ob wir überhaupt einen zweiten bekämen. Der moralische Identitätskrieg aber hält uns davon ab, unsere grundsätzliche Zusammengehörigkeit und damit das Vermittlungspotenzial überhaupt erst zu erkennen.

Nationalismus ist die blödeste Antwort. Und Wokeness auch

Nun hat der Psychologe und Philosoph, der eben nicht glaubt, dass Ideale vom erhabenen Ideenhimmel zu uns kommen, sondern dass wir sie durch Nutzen und Notwendigkeit erlernen, eigentlich überhaupt nichts gegen die wieder verstärkten Affekte der Stammeszugehörigkeit. Das entspricht schließlich unserer Natur – und widerspricht letztlich auch dem Universalismus nicht, wenn wir erst mal erkennen, dass auch die Rettung des Stammes nur über die der Welt führt. 

Es könnte bloß ein bisschen lange dauern, bis das vor allem im Wohlstandswesten ankommt, zumal der ja die Klimafolgen längst nicht als Erstes zu spüren bekommen wird und vielleicht erst durch Schaden klug wird, erkennt, dass das weitere Gelingen im Konkreten nur noch mit der Verwirklichung der höchsten Moralskalierung zu erreichen ist. 

Bei all der Fortschrittsgeschichte vom Tribalismus zum Universalismus wahrscheinlich auch das nachhaltigste Problem ist der Halt auf halber Strecke und der immer neue Rückfall: Nationalismus. Der nämlich verkennt, dass Staaten höchstens Funktionseinheiten sind, die es zu organisieren gilt, niemals aber den Anspruch einer Stammeszugehörigkeit ersetzen können und einem Universalismus darum am meisten im Wege stehen. Vom für den Menschen notwendigen Trennen in ein „Wir“ und „Die“ ist es wahrscheinlich das Dümmste. Und eines mit einer eisernen Moral, die ins willkürlich Totalitäre weist. Aber auch die geschlossene woke Gesellschaft steht in der Tendenz dieser Gefahr. Auf ins Offene! Es geht um jeden Einzelnen – und um alle.

 
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