
Bei all dem Wirbel, wie ihn der Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger und Rammstein-Chef Till Lindemann zuletzt erzeugt haben – ist noch nicht alles gesagt? Und was haben die beiden Fälle überhaupt gemein? Soll etwa ein wütender Politiker vergleichbar sein mit dem womöglichen Missbrauch, den ein Musiker gegenüber Frauen begangen hat?
Nein, das Gemeinsame liegt in den begleitenden, unweigerlich aber miterzählten Umständen – und verweist gerade dadurch auf Grundlegenderes. Das eine ist eine der vielen Fan-Stimmen, die zu den Auftritten von Rammstein in München eingefangen wurden mit der Frage, ob man angesichts der Vorwürfe denn noch mit gutem Gewissen dieser Band und ihrem ja gerne mit Grenzen spielenden Schaffen zujubeln könne. Und da sagte ein Mann in ein Mikro des Bayerischen Rundfunks, dass natürlich schon sehr ernst und bedenklich sei, was Lindemann da vorgeworfen wurde, wenn es sich denn bewahrheite – „aber“, so fügte er, viel umfassender verzweifelt klingend, hinzu: „Muss man denn alles kaputtmachen?“
Die Verzweiflung des Rammstein-Fans und die Wut Aiwangers
Und wer sich nun mokiert darüber, dass so ein Schmerz doch geradezu zynisch sei angesichts des Leidens, das Lindemann laut der Vorwürfe bei anderen ausgelöst hat, der unterschätzt vielleicht die Bedeutung von Popkultur: Für einen echten Fan gehört die Liebe zu seinem Star und dessen Werk zu den Grundfesten der Identität, weil hier etwa in Liedern und den Empfindungen dazu sich das eigene Leben, in deren Zeit die eigene Geschichte spiegelt – ein Pfeiler der Normalität, die wir uns ja selbst konstruieren. Wem das, wie jenem Fan mit Rammstein, abhandenzukommen droht, der verliert oft mehr Vertrautheit mit der Welt, als wenn der über Jahrzehnte gewohnte Zahnarzt in Rente, der immer besuchte Lebensmittelhändler pleitegeht. Und sein Seufzen zeugt zudem davon, dass in seinem Empfinden doch so manches andere mehr derzeit kaputtgemacht zu werden scheint.
Und zwar mehr in Wut als in Verzweiflung – aber davon hat ein wesentlicher Teil der Rede des Politikers Hubert Aiwanger doch auch erzählt: Wenn wir nicht mehr Mama und Papa sagen, nicht mehr mit Holz heizen, kein Fleisch mehr essen, nicht mehr in den Urlaub fahren sollen – dann sägt da jemand an Grundpfeilern dessen, was Normalität ist für eine Mehrheit, so die starke Empfindung des bayerischen Wirtschaftsministers. Und ein Empfinden hat zumindest so viel Berechtigung, dass es ernsthaft auf seine Berechtigung hin geprüft wird – das steht ja auch im Kern der moralischen Empörung, die sehr oft von der Gegenseite ins Spiel gebracht wird und die da nun vermeintlich am Sägen ist: links, grün, woke.
Die einen fürchten um ihre Normalität, die anderen die Sorgen dieser Normalität
Die ja wiederum selbst allerlei aufzeigen, was in der Normalität der anderen eben kaputtgemacht (und darum nun am liebsten Lindemann und Aiwanger canceln würden): die Lebensgrundlagen für die Zukunft, das Recht auf Freiheit von Diskriminierung verschiedener Lebensmodelle, die Rechte und die Würde von Frauen … So entsteht eine Kakofonie von Wut und Verzweiflung, aus gegensätzlichen Richtungen verweisend auf allerlei Zerstörungsversuche. Willkommen in der deutschen Gegenwart, wo es darum – samt Sozialstaat und Wohlstand und Industrie und Infrastruktur und europäischem Werteverständnis – in der Gesamtschau mitunter scheinen mag, als würde von allen zusammen einfach alles irgendwie kaputtgemacht.
Aber bitte: Ist Hubert Aiwanger künftig wirklich an die weiblich gelesene, gebärende Person, an Wegegepe also, zu denken gezwungen statt an Mama? Und verbietet dem Rammstein-Fan wirklich jemand sein Vergnügen? Wer nun Songs wie „Pussy“ oder „Dicke Titten“ immer noch geil findet, der sei ja zudem versichert, dass er sich damit in allerbester, auch hoch kultureller Gesellschaft befindet – denn in Literatur und Philosophie und Malerei und Musik gibt es ja auch reichlich Faschisten, Sexisten, verurteilte Straftäter und Schweine, deren Werk weiter innig verehrt wird.
Sollte ein toxischer Typ weiter ein Held bleiben?
Aber eine Gesellschaft muss sich ja doch auch fragen und darüber verhandeln, welche Normalität sie sich zu welchem noch leisten kann und will. Ja, dabei aber geht es auch um Holz und Fleisch und Urlaub. Und wer wird seinen Kindeskindern später auf die Frage, warum wir nichts geändert haben an unserer Normalität, wo wir doch alles wussten, unberührt antworten können, dass alles Engagement gemessen an China doch Kinkerlitzchen gewesen wären? Aber vielleicht geht es auch darum, welche Auswirkungen in Umwelt und Gesellschaft die Non-Stop-Beströmung in Internet und Social Media haben. Zeigen hier die allzu oft Anklagenden selbst Verantwortlichkeit, kommen sie da nicht allzu gerne selbst mit dem China-Argument, was denn der eigene Verzicht schon bewirken solle, wo doch alle anderen dauerströmen, wo das doch zur Normalität gehört?
Angesichts all der Krisen muss über all das ja redet und auch gestritten werden. Kaputt ist alles erst, wenn das nicht mehr möglich ist, weil sich alle auf die moralische Absolutheit des ureigensten Empfindens oder das irgendeiner Mehrheit zurückziehen. Wenn sich der Rammstein-Fan fragen kann, ob ein gerade seine Star-Rolle missbrauchender, toxischer Typ weiter ein Held bleiben sollte, dabei aber trotzig seine Normalität beibehalten darf: Im Politischen steigert sich das im Wortsinn Toxische ja zur Existenzfrage – inwiefern, muss sich da doch fragen, wer das Politische noch halbwegs ernst nimmt, kann das Gewohnte da überhaupt noch einen Anspruch auf Normalität haben?