Neulich abends in Berlin. Susanne hatte eine Schar Freundinnen zum Abendessen geladen. Zum Nachtisch servierte sie eine schimmernde Halbkugel karamellfarbenes sanftes Parfait. Es war umwerfend! Aber von wegen Karamell. Das Halbgefrorene schmeckte zart nach Lakritze, war nicht zu süß und nicht zu herb. Es schmeichelte dem Gaumen, schmolz auf der Zunge und weckte frühe Erinnerungen an pechschwarze, lustvoll gelutschte Salinos und doppelreihige, schier endlose Lakritz-Schnecken, erstanden vom ersten Taschengeld und mit Hingebung genossen.
Susanne Kippenberger, die Gastgeberin des Abends und kulinarisch begeisterte Autorin von Artikeln und Büchern, die ihre Leidenschaft als Gastgeberin aufs Unterhaltsamste belegen, könnte man als eine Fachfrau für Lakritz bezeichnen. Ihre Kindheit mit vielen Geschwistern verbrachte sie im Ruhrgebiet. Das ist nicht allzu fern von der holländischen Grenze, auf deren anderer Seite bekanntermaßen die Lakritz-Hochburg Europas liegt. Bis zu zwei Kilo pro Mensch und Jahr soll dort Drop gefuttert werden. So richtig weiß niemand, warum.
Lakritz ist die Essenz der Süßholzwurzel
Im heimischen Nordrhein-Westfalen trug die kleine Susanne ihre 50 Pfennig Taschengeld meist zur „Schluckerbude“ (Trinkhalle), da gab es Töpfchen mit Silberlingen, Salinos und natürlich Lakritz-Schnecken. „Aber wenn wir Ferien machten in Holland, freuten wir uns auf das supertolle Lakritz unserer Nachbarn. Egal, ob süß oder salzig. Der Höhepunkt des Tages war immer eine Schnecke.“ Susanne machte eine kulinarische Erfahrung fürs Leben. „Als Zwischenmahlzeit esse ich immer noch meine Portion Lakritz“, verrät sie. Lakritz ist die Essenz von Süßholz, aus dessen Wurzeln der Rohstoff gewonnen wird. Mit Zuckersirup, Mehl, Gelatine und je nach Geschmacksrichtung einer Menge individuell ausgewählter Aromen wird daraus Lakritz für jeden erdenklichen Geschmack.
Liebhaber des schwarzen Naschwerks haben die Qual der Wahl, so viele Spezialitäten gibt es inzwischen. In Finnland heißt Lakritz Lakritsi, in Schweden Lakrits, in Holland Drops und in Dänemark Lakrids. So überzieht der Däne Johan von Bülow in Kopenhagen seine Lakrids schon mal mit belgischer Schokolade oder taucht lauter mundgerechte elegante und knusprige Kügelchen in glänzende schmackhafte Fruchthüllen. Lakritz-Stangen, Katzenpfötchen, Salzdiamanten, Küstenfeuer – Lakritz und kein Ende. Mit Salmiak und ohne. Salzig oder süß. Für jeden noch so ausgefallenen Geschmack ist etwas dabei.
Früher gehört Lakritz zum Kinobesuch wie heute das Popcorn
Lakritz kommt aus Holland, aus Italien, vor allem aber aus den nordischen Ländern und natürlich aus Deutschland. Eine Kindheit ohne Katjes und Lakritz-Schnecken, auch bei uns undenkbar. Bevor das Popcorn die Foyers eroberte, gehörten Kino und Lakritz im Haribo-Konfekt noch fest zusammen. Legendär ist Charlie Chaplin als einsamer Goldsucher im amerikanischen Stummfilm „Goldrausch“ von 1925. Darin verspeist er seelenruhig ein paar gegarte Schuhe und wickelt deren Schnürbänder wie Spaghetti auf seine Gabel. Die Senkel waren aus Lakritz, so heißt es.
Nicht nur im Kino sind auch die Finnen für manche Kuriosität gut. Bei einer kleinen Hausverkostung ihrer Lakritsi-Spezialitäten und in Ermangelung genügender Sprachkenntnisse des ostseefinnischen Zweigs der finno-ugrischen Sprache fand eine Sorte allerdings gar keinen Anklang und landete kaum im Mund spontan im Spülbecken. Statt Süße und Säure verklebten Speck und Rauch Zunge und Gaumen. Das war starker Tobak. Die zur Hilfe gerufene Internetübersetzung spuckte „echt nach Teer schmeckend“ aus.
In Berlin gibt es einen Laden: Kadó heißt er. Das Wort ist niederländisch und heißt Geschenk. Inhaberin Ilse Böge zeigt dort ihre ganze Lakritz-Leidenschaft. Die Lakritz-Pionierin ist wie Susanne Kippenberger an der Grenze zu den Niederlanden aufgewachsen und bietet neben eigenen Kreationen wie Zimt-Lakritz-Gelee Lakritz-Leckereien aus Island im Norden Europas bis Sizilien im Süden an. 500 Sorten aus aller Welt kann man dort kaufen, und viele davon schafften es sogar in die berühmte Feinschmecker-Abteilung des KaDeWe (Kaufhaus des Westens).
Im süditalienischen Kalabrien wird pechschwarzes Lakritz hergestellt
Das für die Herstellung notwendige Süßholz wächst hauptsächlich in Westasien und wird importiert. Noch im 15. Jahrhundert wurde es sogar im fränkischen Bamberg groß angebaut. Eine Süßholz-Gesellschaft gibt es dort immer noch. Dass die Süßholz-Ernte auch in der Mittelmeerregion historisch ist, weiß kaum jemand bei uns. Im süditalienischen Kalabrien wird noch heute seit dem 18. Jahrhundert ein pechschwarzes festes und kleinteiliges Lakritz hergestellt, das inzwischen sogar herkunftsgeschützt (DOP) ist. Die nostalgischen Dosen der Firma Amarelli haben längst Sammlerwert.
Es gibt aber auch Apfel-Lakritz-Chutney, Lakritz-Essig, Lakritz-Likör, Lakritz-Konzentrate für Drinks und Lakritz-Sirup für Desserts und Dressings. Während in der arabischen Welt immer noch Lakritz-Pulver kalt aufgegossen als Erfrischungsgetränk sehr beliebt ist, ist Lakritz bei uns längst in der Küche angekommen. Heston Blumenthal, der britische Küchen-Revoluzzer und Drei-Sterne-Chef des Restaurants „Fat Duck“ in der Grafschaft Berkshire hat schon vor 20 Jahren Lachs in Lakritz gebadet.
Römer und Griechen schrieben dem Lakritz eine heilende Wirkung zu
Die Dosierung bestimmt den Erfolg beim Süßholzraspeln. Ein paar winzige Späne oder eine Prise vom Süßholzpuder genügen. Nur ein paar Tröpfchen von der Lakritz-Creme über Burrata und frische Tomaten geträufelt gibt den richtigen Kick. Es ist wie beim Einschmeicheln und Komplimente machen (Süßholzraspeln). Auf das Fingerspitzengefühl kommt es an. Und Lakritz muss man einfach mögen, so wie die Finnen, die sogar starken Schnaps mit Salmiak-Lakritsi mischen. Das hoch im Norden über Hamburg in Korn oder Köm aufgelöste Lakritz heißt dort Swarte Sööch. Diese Sauerei ist mir als Holsteinerin allerdings nie untergekommen.
Die Geschichte des Lakritzes zu Zeiten der alten Römer und Griechen hat als Medizin ganz klar an Überzeugungskraft verloren. Seine heilende Wirkung bei Infektionen und Magengeschwüren hat sich nicht durchgesetzt. Als Naschwerk machte es bald Furore. Susanne Kippenberger isst Lakritz ohne Reue: „Für meinen niedrigen Blutdruck ist das prima.“ Übermäßiger Genuss von Lakritz und das darin enthaltene Glycyrrhizin können nämlich den Elektrolythaushalt des Körpers beeinflussen und zu Bluthochdruck führen.
Susanne hat in ihrer Speisekammer ein eigenes Körbchen für Lakritz. Darin liegen Katjes, Salzheringe und Teddybären aus Holland. „Und in der Handtasche habe ich immer ein von mir zusammengestelltes Tütchen dabei. Zu Entzugserscheinungen ist es bei mir aber noch nicht gekommen, wenn mal kein Lakritz zur Hand ist.“
Lakritz – kleine Warenkunde
- Lakritz ist ein Extrakt, der aus den Wurzeln der Echten Süßholzpflanze gewonnen wird. Die Wurzeln werden zerkleinert und gesimmert, sprich knapp unter dem Siedepunkt so lange ausgekocht, bis ein zäher, eingedickter Wurzelsaft entsteht. Der Saft wird in Blockform gegossen und härtet beim Abkühlen aus. So entsteht der Rohlakritz, der dann beispielsweise in Blockform oder als Pulver die Grundzutat für Süßigkeiten liefert. Aus zehn Kilo Süßholzwurzel lässt sich rund ein Kilo Rohlakritz herstellen.
- Die Süßholzwurzel enthält etwa 400 verschiedene Inhaltsstoffe. Für den typischen Lakritz-Geschmack ist die in der Wurzelrinde enthaltene Zuckerverbindung Glycyrrhizin verantwortlich. Der Stoff besitzt eine fünfzigfach stärkere Süßkraft als Rohrzucker.
- Feine Lakritz-Adressen: Finnisches Lakritz von „Kouvolan Lakritsi“, www.kouvolanlakritsi.fi, Dänisches Lakritz von „Lakrids by Bülow“, www.lakridsbybulow.de., Lakritz aus aller Welt bei „Kadó Lakritzfachhandel“, www.kado.de
Rezept für Lakritz Parfait:
Zutaten
- 200 ml Milch
- 100 g Lakritz-Schnecken
- 3 Eigelb
- 125 g Zucker
- 200 ml Schlagsahne
Zubereitung
Die Milch aufkochen. Lakritz-Schnecken hinein geben. 5 Minuten köcheln lassen. Herd abstellen. Über Nacht ziehen lassen. Am nächsten Tag alles mit dem Zauberstab pürieren. Dann das Eigelb mit dem Zucker aufschlagen. Lakritz-Milch und die geschlagene Schlagsahne unterheben. In eine runde Metallform geben und gefrieren lassen. Zwischendurch hin und wieder umrühren, damit sich das Lakritz nicht absetzt. Kurz vor dem Servieren stürzen. Am besten das Parfait einen Tag vor dem Servieren zubereiten.
Das Rezept stammt von Susanne Kippenberger, Berliner Journalistin und Autorin. Im Hanser-Verlag erschien von Susanne Kippenberger zuletzt das Buch „Die Kunst der Großzügigkeit“ (253 S., 24 Euro).