Jetzt beginnt sie wieder, die Zeit der "neuen, frischen Weine“ aus dem Jahrgang 2022. Eine gute Gelegenheit, zu verkosten und danach einzukaufen. Trinken sollte man allerdings viele der Tropfen nicht gleich. Mit Ausnahme der allereinfachsten Qualitäten tut die Zeit im Keller den Weinen nämlich richtig gut. Leider ist dieses selbstverständliche, jahrhundertealte Wissen im gegenwärtigen Frische-Wahn ignoriert worden und fast verloren gegangen. Erst in den letzten Jahren haben engagierte Winzer zusammen mit ambitionierten Wein-händlern und kenntnisreichen Gastronomen das Thema "Gereifter Wein“ aufgegriffen – mit wachsendem Erfolg.
Im Gut Spanier-Gillot lässt man Weine erst mal verschwinden...
Hans-Oliver Spanier war sich seiner Sache ganz sicher. DerWinzer des renommierten Weinguts "Kühling-Gillot&Battenfeld-Spanier“ im rheinhessischen Bodenheim verkostete seinen Riesling "Nierstein“ aus dem Jahrgang 2007 und brachte 7000 Flaschen davon im Jahr 2008 auf den Markt. Die Ernüchterung kam schnell. Das Interesse der Kundschaft an diesem Tropfen war gering. Und so beschloss Spanier, der das Potential dieses Weines genau erkannt hatte, den Wein nicht zu verramschen, sondern im eigenen Keller für einige Zeit verschwinden zu lassen. Was dann passierte, brachte dem angesehenen Weinbaubetrieb eine weitere Dimension der Qualität ein und dem Winzer ein Erlebnis der besonderen Art, über das er heute noch staunt: "Im Jahr 2013 dann habe ich genau diesen Wein aus dem Keller geholt und wieder auf einer Verkostung hergezeigt. An einem einzigen Tag waren alle Flaschen verkauft.“
Von diesem Erlebnis beflügelt begannen Hans-Oliver Spanier und seine Frau Carolin in jedem Jahr zwischen 5000 und 10.000 Flaschen ihrer Weine aus dem aktuellen Jahrgang für einige Jahre zurückzuhalten und eine sogenannte "Treasure Collection“ für ihre Kundschaft anzulegen. Diese Erfolgsgeschichte hatte Konsequenzen: Im Jahr 2019 bauten sie einen neuen Reifekeller, um dem Platzproblem für diese neue Ausrichtung im Betrieb Herr zu werden.
Den Spaniers ist es wichtig, dass der gereifte Wein bei ihrer Kundschaft nicht zum abgehobenen Freak-Thema wird, sondern erlebbar bleibt. "Deshalb sollen unsere Weine aus der "Treasure Collection“ auch nicht ein Vermögen kosten. Das fängt bei 24,50 Euro an und endet bei 72 Euro für ein Großes Gewächs 2017 aus dem "Ölberg“. Dem philosophischen Bogen, den Hans-Oliver Spanier schlägt, folgt man gerne angesichts der Qualität der gereiften Weine aus diesem Betrieb: "Große Kulturgüter in Musik und Literatur waren immer losgelöst von der Zeit. Auch beim Wein sollte man den "Zeitgeist“ einfach mal über die Schulter werfen.“
"Treasure Collection“,www.kuehlingandbattenfeld.com
Stephan Geisel: "Alte Weine sind gechillter und harmonischer"
In der Welt der großen Weine ist Stephan Geisel nun wahrlich zu Hause – kenntnisreich und ohne Allüren. Er ist im Bruder-Trio der Familie Geisel, der "Königshof-Dynastie“, mit höchster Gastronomie-und Hotellerie-Kompetenz, für den Wein zuständig mit seiner "Geisels Weingalerie“ in der Innenstadt von München. Über 900 verschiedene Weine, von 6.50 Euro bis in die Vierstelligkeit für Raritäten, hält sein Weinhandel vor. Richtig in Wallung gerät Stephan Geisel allerdings, wenn es um gereifte Weine geht: "Eine so seidige Textur, elegant und geschmeidig. Am Anfang war er noch untertourig, aber dann nimmt er richtig Fahrt auf…“. Die Rede ist von einem roten Bordeaux "Duhart-Milon Rothschild“ aus dem Jahr 1987. Wer würde schon so einen fast 40 Jahre alten Wein in größerer Stückzahl erwerben wollen? Auf den ersten Blick ist das kein Wein, der einem vom Namen her die Besinnung raubt. Stephan Geisel hat die Aktiva dieses vermeintlich alten Weines sofort erkannt: "Kleiner Jahrgang, gutes Chateau, in einem perfekten Keller gereift, das funktioniert immer.“ Genau 90 Flaschen hat er davon noch erstehen können. Darüber freut er sich unbändig.
"Es geht nicht darum, die ganz großen Weine zu horrenden Preisen zu kaufen. Die Reife bietet kleine Fenster, die ganz erstaunlichen Weingenuss ermöglichen zu erschwinglichen Preisen.“ Mittlerweile ist der Anteil in "Geisels Wein-Galerie“ an gereiften Tropfen auf dem Weg zur Zehn-Prozent-Marke. Stephan Geisel hat drei klare Argumente für Weine in den besten Jahren: "Erstens: Alte Weine sind verträglicher. Zweitens: Der Alkohol ist besser eingebunden. Drittens: Gereifte Weine sind einfach gechillter und harmonischer.“
1987 Duhart-Milon Rothschild, 89 Euro,www.geisels-weingalerie.de
Was die Langläufer brauchen: Struktur und Substanz
Doch nicht alle Weine eignen sich für die längere Lagerungüber fünf Jahre hinaus. Der frische Müller-Thurgau aus Franken und auch der trinkige Bacchus freuen sich über eine Entleerung der Flasche in einem kürzeren Zeitfenster. Auch freudige Rosé-Weine und Tropfen, die von der leichten Kohlensäure leben, schmecken jung einfach besser. Aber gleich danach wird es spannend. Es muss nicht nur das Große Gewächs sein, das die lange Reife verdient. Auch ein gelungener Wein aus einer Ersten Lage macht nach vielen Jahren noch Freude.
Was die Langläufer brauchen, sind niedrige Erträge im Weinberg, dazu Struktur und Substanz. Die roten Cuveés aus dem Bordelais bieten, was die Reife-Fähigkeit angeht, größtes Potential. Und eine gewisse Ausschließlichkeit, denn jung getrunken machen sie sehr viel weniger Freude als nach zehn bis dreißig Jahren Lagerung. Auch in den deutschen Anbaugebieten ist man gut aufgestellt mit Rebsorten, die wahrlich nobel altern können. Ganz vorne der Riesling, der mit der Reife diese unnachahmlichen Noten nach Leinöl bekommt, die man im Fach-Chinesisch auch mit dem irreführenden Ausdruck "Petrol“ beschreibt. Hat überhaupt nichts mit Petroleum zu tun, sondern vielmehr mit einem Öl, mit dem man Antiquitäten pflegt. Auch der Silvaner, die fränkische Parade-Rebsorte, macht eine äußerst charmante Verwandlung durch: weg von der primär-aromatischen Birne mit zitrischen Aspekten hin zu einer eleganten Kräuterigkeit. Der rote Spätburgunder zum Beispiel, dessen Reife-Potential durchaus 20 Jahre auf der Uhr hat, lässt nach der Pubertät die Kirsch-und Himbeer-Noten hinter sich und zeigt Aromen nach Waldboden, verfallendem Herbstlaub und Weihrauch.
Nicht jeder Wein kann mit Gewinn reifen
Im Grunde ist es ein "Dreisprung“, den qualitätsvoller Wein macht im Laufe der Zeit: Die Primär-Aromen begleiten ihn für eine Weile nach der Füllung. Die Sekundär-Aromen gibt der Winzer mit durch seine Entscheidung, seinen Wein im Stahltank, im alten Holzfaß, im Barrique, (also im neuen kleinen Eichen-Faß) oder auch im Beton-Ei auszubauen. Nach einigen Jahren bilden sich dann die sogenannten Tertiär-Aromen aus, die meistens mit stiller Eleganz daherkommen. An dieser Stelle muß man allerdings einem Missverständnis vorbeugen: Nicht jeder Wein, nicht jede Rebsorte kann so reifen, dass es ein Gewinn für den Genuss ist. Der "einfache Tropfen aus dem Supermarkt“ wird nach einigen Jahren einfach nur ein "alter einfacher Tropfen aus dem Supermarkt“ sein.
DasGasthaus "Zum Vaas“ scheint auf den ersten Blick keine Adresse für große Weine zu sein. Östlich von München, im Ort Forstinning gelegen, vermutet man eher gute bayerische Küche mit süffigem Bier. "Mich haben die Gäste am Anfang mitleidig gefragt, ob ich nicht Angst hätte, so alte Weine überhaupt zu servieren“, erzählt Veronika Bauer, die nach einigen Sommelier-Stationen in der Gastronomie im Jahr 2011 den elterlichen Betrieb zusammen mit ihrem Bruder übernommen hatte. "Mir war klar, wenn ich zurückkomme, dann setzen wir auf den gereiften Wein in unserem Gasthaus.“ Zusammen mit Bruder Johannes und Ihrem Mann Philipp, dem Küchenchef, der selbst aus einer Winzerfamilie stammt, realisierte Veronika Bauer eine Weinkarte mit 400 verschiedenen Weinen und einer Jahrgangstiefe, die bei den Betreibern einiger Sterne-Lokale im schicken München puren Neid auslöst.
Im Gasthaus "Zum Vaas" setzen sie mehr denn je auf die perfekte Reife
Für Veronika Bauer ist es keine Überraschung, dass der Weinanteil am Gesamt-Umsatz im "Vaas“ in den vergangenen Jahren von sechs auf über 20 Prozent gestiegen ist. "Das liegt schon stark an den gereiften Weinen, die wir anbieten. Die Reife eines Weines bindet die vorhandenen Aromen einfach besser ein und gestaltet ein neues Bild. Das versteht unsere Kundschaft mittlerweile bestens und lässt sich auf unsere Empfehlungen ein“.
Im Umgang mit dem Weinkeller haben die beiden Geschwister deshalb eine große Gelassenheit entwickelt und setzen mehr denn je auf die perfekte Reife. "Gerade erst fangen wir bei den deutschen "Großen Gewächsen“ mit den Jahrgängen 2017 und 2018 im Verkauf am Tisch an. Der 2013er wird jetzt langsam knapp.“ Mit dem Vertrauen der Kundschaft haben sich die Bauers sogar an das französische Nummer-eins-Weingut getraut: Seit diesem Jahr gibt es also in Forstinning "Romanée-Conti“, selbstverständlich gereift, zu vierstelligen Preisen pro Flasche. Veronika Bauer kann es selbst kaum glauben, dass "wir jeden Monat mindestens eine Flasche davon verkaufen.“
Das Vergnügen mit gereiften Weinen im "Vaas“ beginnt bei 40 Euro pro Flasche für Erste Lagen und bei etwa 60 Euro für Große Gewächse. Die gastronomische Konkurrenz aus der großen nahen Stadt macht das Beste aus diesem überragenden Preis-Leistungs-Verhältnis. Gut zu besichtigen an Sonntagabenden, wenn sich Münchens Sterne-Gastronomen an ihrem eigenen Ruhetag mal eine gute gereifte Flasche Wein zu einem nicht unverschämten Preis gönnen jenseits von München.
Gasthaus zum Vaas, Münchner Straße 88, 85661 Forstinning, 08121-43091, www.zum-vaas.de