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Alkoholproblem
Jung, gebildet, erfolgreich – süchtig: Immer mehr junge Frauen trinken zu viel Alkohol
Sie sind süchtig nach dem Rausch. Und es werden immer mehr. Warum betrifft das Problem junge Frauen so stark? Hier erzählen wir davon.
Prost! So oder so ähnlich stellen sich manche Jugendliche die Reise mit einer Jugendgruppe vielleicht vor. In der Praxis gibt es aber oft strenge Regeln, was den Alkoholkonsum angeht. Foto: Erik Reis/PantherMedia       -  Sie sind jung, gebildet und beruflich erfolgreich. Trotzdem trinken sie zu viel Alkohol. Der Konsum bei Frauen ist in den vergangenen Jahren gestiegen.
Foto: Erik Reis/PantherMedia (dpa) | Sie sind jung, gebildet und beruflich erfolgreich. Trotzdem trinken sie zu viel Alkohol. Der Konsum bei Frauen ist in den vergangenen Jahren gestiegen.
Felicitas Lachmayr
 |  aktualisiert: 11.03.2024 13:18 Uhr

Nie trank sie morgens. Nie zitterten ihr die Hände. Trotzdem war sie süchtig. Nach dem Rausch. Nach dem Freiheitsgefühl. Raus aus der schwäbischen Kleinstadt, rein ins Leben. An den ersten Schluck erinnert sich Eva Biringer noch genau. Sturmfreie Bude, sie saß mit Freunden im Wohnzimmer, spielte Wahrheit oder Pflicht. Die Pflicht: Am Billig-Rum nippen. Die Wahrheit: Am Ende hing sie betrunken über der Kloschüssel. Sie war elf.

Harter Einstieg. In eine Sucht, die so schleichend daherkam, dass sie es kaum merkte. Weil sie selten allein und Alkoholüberall war. Er versprach Spaß, übertünchte Gefühle und brachte die innere Kritikerin zum Schweigen. Heute, 22 Jahre später, spricht Biringer nüchtern darüber. Wie sie sich als Jugendliche auf Dorffesten mit Tequila, Feiglingen oder Wodka-O die Kante gab. 

Wie sie als Studentin orientierungslos durch Berlin steuerte, vor dem Späti zusammenklappte oder im Treppenhaus einschlief. Wie sie in fremden Betten landete und an Orten aufwachte, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war. Erinnerungslücken, Blackouts, Kontrollverlust.„Es gab viele Nächte, von denen ich am nächsten Tag nichts mehr wusste. Viele Momente, in denen ich dachte, wie bin ich da nur hineingeraten“, sagt Biringer.

13 Prozent der Frauen in Deutschland trinken in riskantem Maß

Auf Instagram postete die 33-Jährige Bilder mit Weinflasche in der Hand, Freundinnen und Freunden erzählte sie von ihren Eskapaden. „Ich dachte, es schützt mich, wenn ich offen damit umgehe“, sagt Biringer. Als Fachjournalistin für Essen und Trinken war sie ständig von Alkohol umgeben. „Drinks gehörten quasi zum Job“, sagt sie. Ihr liebster Begleiter: Negroni. Ein hochprozentiger Cocktail aus Gin, Wermut und Campari. Biringer trank mal exzessiv, mal nur einen Drink am Abend. Sie legte Zwangspausen ein, erschien pünktlich zu Terminen und arbeitete trotz Kater. Die 33-Jährige litt unter den Abstürzen. Aber ein Leben ohne Alkohol? Das konnte sie sich lange nicht vorstellen.

Biringer ist jung. Sie hat einen Uniabschluss und ist beruflich erfolgreich. Damit gehört sie zu einer Gruppe, für die Alkohol immer mehr zum Problem wird. Denn während der gesundheitlich riskante Alkoholkonsum bei Männern in den vergangenen Jahren gesunken ist, nahm er bei Frauen zu. Dem Epidemiologischen Suchtsurvey (ESA) zufolge, konsumierten 1997 rund sieben Prozent der Frauen in DeutschlandAlkohol im Übermaß. 2018 waren es 13 Prozent. Bei den 18- bis 29-Jährigen lag der Anteil noch höher: 17 Prozent legten ein riskantes Trinkverhalten an den Tag. 

Bedeutet: Sie becherten mehr als die empfohlene Menge von zehn bis zwölf Gramm reinen Alkohol am Tag –also mehr als ein kleines Glas Bier oder ein noch kleineres Glas Wein – und hielten sich nicht an die zwei alkoholfreien Tage in der Woche. Damit schadeten sie ihrer Gesundheit, süchtig waren sie nicht. 

Doch die Grenzen zwischen riskantem Konsum und Alkoholismus sind fließend. Nicht alle, die am Wochenende bechern, sich zum Sektfrühstück treffen oder aufs Feierabendbier freuen, rutschen in die Abhängigkeit. Aber manche. Denn auch die Zahl der alkoholabhängigen Frauen ist zwischen 1997 und 2018 von einem auf zwei Prozent gestiegen. Woran liegt das?

Expertin sagt: „Auf den Frauen lastet ein enormer Druck."

Besuch bei Marta Budna-Lamla. Sie ist Mitglied im Arbeitskreis „Frauen und Sucht“ der Koordinierungsstelle der bayerischen Suchthilfe (KBS) und leitet die Suchtfachambulanz in Aichach. Hübsches Gebäude mit Innenhof, Holztreppen führen in den ersten Stock. Das Zimmer wirkt freundlich, Pflanzen in der Ecke, im Kreis angeordnet ein paar Stühle. „Für die Gruppengespräche“, sagt Budna-Lamla. Sie sitzt am Schreibtisch. Aufrechte Haltung, aufmerksamer Blick. 

Die geschlechterspezifische Arbeit sei ihr wichtig, sagt sie. Denn Frauen würden aus anderen Gründen süchtig als Männer. „Auf ihnen lastet ein enormer Druck. Sie haben oft zu hohe Erwartungen an sich selbst, wollen immer perfekt sein, egal ob als Mutter, Ehefrau oder im Job. Das führt zu Stress und Überforderung“, sagt die Expertin. Der Griff zur Weinflasche ist dann oft nicht weit. Vor allem, wenn es an Bewältigungsstrategien fehlt. „Bei vielen Suchtbetroffenen war die Identitätsentwicklung gestört“, sagt Budna-Lamla. „Sie haben nicht gelernt, adäquat mit Stress, Druck oder Konkurrenz umzugehen.“

Die Suchttherapeutin hat eine offene Gruppe speziell für Frauen eingerichtet. Junge Singles sitzen neben berufstätigen Müttern, Karrierefrauen und älteren Damen. „Sucht hat viele Gesichter. Sie zieht sich durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten“, sagt Budna-Lamla. In der Therapie gehe es viel darum, Fassaden abzubauen und hinzuschauen, wer man wirklich ist. 

„In homogenen Gruppen trauen sich Frauen eher, über Themen wie Sexualität, Missbrauch oder Gewalterfahrungen zu sprechen“, sagt die Suchttherapeutin. Nicht immer sind traumatische Erlebnisse Grund für eine Sucht, aber meist geht sie mit anderen Erkrankungen wie Depression, Angst oder einer Persönlichkeitsstörung einher. In der Kneipe sitzen, herumpöbeln, nach Hause torkeln – bei Frauen ist das selten. „Sie konsumieren eher im Verborgenen“, sagt die Expertin.

Gleichberechtigung auch im Rausch: Das Trinkverhalten gleicht sich an

Sozialisation spielt eine Rolle, denn Frauen lernen stärker, sich anzupassen, Dinge auszuhalten und sich selbst zurückzunehmen. „Viele Suchtbetroffene leben nicht in Resonanz mit sich und ihrer Umwelt. Sie spüren nicht, wann es zu viel wird, sagt Budna-Lamla. Die Emanzipation ist ein enormer gesellschaftlicher Fortschritt. Sie erlaubt Frauen wie Männern, selbstbestimmt und fernab von Rollenklischees zu leben. Doch für Frauen geht es oft mit einer Mehrbelastung einher.

Sie arbeiten, wuppen den Haushalt, sind hauptverantwortlich für die Kinder. „Suchterkrankte Frauen bemühen sich sehr darum, weiter zu funktionieren“, sagt Budna-Lamla. Aufgeräumte Wohnung, gefüllter Kühlschrank, gemachte Nägel – alles in Ordnung nach außen hin. Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts zeigen, dass Frauen mit hohem Bildungsniveau und sozioökonomischem Status ein doppelt so hohes Risiko haben, in riskantem Maß Alkohol zu trinken wie Frauen aus mittleren oder niedrigen Statusgruppen. Sie orientierten sich weniger an traditionellen Rollenbildern, so die Erklärung.

Platt gesagt: Wer arbeitet wie ein Mann, kann auch trinken wie ein Mann. Gleichberechtigung auch im Rausch. „Alkoholtrinken wird als Emanzipation verkauft“, sagt Eva Biringer. „Anstatt die Verhältnisse infrage zu stellen und zu überlegen, woher die Gefühle der Unzulänglichkeit kommen, suchen Frauen die Schuld bei sich, beruhigen sich mit Pinot Grigio und feiern das Saufen als Selbstermächtigung.“ 

Den Eskapismus in kleinen Dosen feiern? Darf auch mal sein

Denn Alkohol weckt positive Assoziationen. Er steht für Macht und Erfolg. Enthemmt, euphorisiert, wirkt bewusstseinsverändernd und soll schon manch genialen Gedanken hervorgebracht haben. Beethoven, Schiller, Hemingway – tranken alle bei der Arbeit. „Welche Krankheit ist an Hartnäckigkeit mit dem Hang zum Alkohol zu vergleichen?“ fragte sich immerhin der schwer alkoholsüchtige Edgar Allan Poe. Aber das Ethanol hilft eben auch, stupide Schreibarbeit hinter sich zu bringen. „Hol mir mal ’ne Flasche Bier, sonst streik’ ich hier“, monierte Altkanzler Gerhard Schröder bei einer Autogrammstunde.

Abschalten, genießen und den Eskapismus in kleinen Dosen feiern? Darf auch mal sein. Muss ja nicht gleich im Besäufnis enden. Aber auch das hat Tradition. Bierleichen, Kotzhügel, Oktoberfest, o’zapft is! In Bayern schwadroniert ein Ministerpräsident auch mal davon, dass Autofahren nach zwei Maß Bier schon irgendwie ok ist. ’S Glas in’d Hand, zum Wohl mitnand! Im katholischen Süden lässt man nichts drauf kommen. Schon Jesus verwandelte Wasser in Wein. Und überhaupt, die Griechen, die Römer, alle tranken – auch wenn der Wein nach Essig schmeckte, weniger Promille hatte und als Alternative zum verseuchten Wasser gebechert wurde. Kulturgut eben.

Wird Alkohol aber zum Problem, ist es mit der Toleranz schnell vorbei. „Alkoholismus wird immer noch tabuisiert und die Betroffenen stigmatisiert“, sagt Suchttherapeutin Marta Budna-Lamla. Ein Umfrage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ergab, dass ein Drittel der Bevölkerung einen Alkoholkranken als Nachbarn oder Arbeitskollegen ablehnt. Süchtige gelten als charakterschwach und selbst schuld an ihrer Misere. 

Mediziner sagt: „Deutschland hat ein Alkoholproblem.“

Obwohl rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig sind – also ganz München und ein bisschen Umland – wird die Krankheit immer noch mit Randgruppen assoziiert. Ein Alkoholproblem? Haben andere. Der Obdachlose am Bahnhof, die Langzeitarbeitslose, der gescheiterte Kleinkünstler. 

Ab und an torkelt mal ein Promi über den roten Teppich oder ein Politiker lallt vor laufender Kamera. Legendär das Gebrabbel des FDP-Abgeordneten Detlef Kleinert oder die beschwipsten Gehversuche von Boris Jelzin. Tragisch hingegen die trunkene Autofahrt des Ex-CSU-Generalsekretärs und späteren bayrischen Verkehrsministers Otto Wiesheu, bei der ein Mensch zu Tode kam. Der Bundestag sei eine Alkoholikerversammlung, die ordinär nach Schnaps stinke, schimpfte Joschka Fischer Anfang der 1980er Jahre. Aber das ist lange her.

Seitdem hat sich einiges getan im Umgang mit Alkohol. Der Konsum geht seit Jahren zurück. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen trinken die Menschen rund zehn Liter reinen Alkohol im Jahr. Am liebsten in Form von Bier – 95 Liter waren es 2020. Das ist weniger als vor 30 Jahren, als sich die Deutschen 143 Liter Bier und 14 Liter reinen Alkohol reinkippten. Aber im weltweiten Vergleich immer noch viel. 

Zu viel, sagt Helmut Seitz, Professor für Innere Medizin und Gastroenterologie an der Universität Heidelberg. Seit 45 Jahren forscht er zu Alkoholabhängigkeit und deren Folgen. Er sagt: „Deutschland hat ein Alkoholproblem.“ Dazu ein paar Zahlen: Acht Millionen Erwachsene haben ein riskantes Trinkverhalten. Alkohol ist die Droge mit den meisten Toten – 63.000 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen des Konsums. Jeder dritte Gewalttäter hatte bei der Tat Alkohol im Blut. 

„Wir wissen inzwischen so viel über die Folgen von erhöhtem Alkoholkonsum, trotzdem ist die Gesellschaft nicht schlauer geworden“, sagt Seitz. Wissenschaftlich betrachtet sei Alkohol ein Zellgift. Das gesunde Glas Rotwein oder Bier? „Ist ein Mythos“, sagt Seitz. „Gesunden Alkohol gibt es nicht, man kann ihn nur in risikoarmen Mengen konsumieren.“ Also nicht mehr als ein Viertel Liter Wein am Tag für Männer und ein Achtel für Frauen. Dazu mindestens zwei alkoholfreie Tage in der Woche. 

Rund 200 Erkrankungen stehen in Verbindung mit Alkohol

Andernfalls steige das Risiko für eine der rund 200 alkoholbezogenen Erkrankungen. Am häufigsten sei die Leber betroffen. Zudem greift Ethanol das Nerven- und Verdauungssystem an, führt zu Bluthochdruck, Herz–Rhythmus-Störungen und psychischen Problemen. Frauen schädigt das Zellgift stärker. Denn der weibliche Körper baut Alkohol langsamer ab. Die Leber verfettet schneller. Dazu kommt ein erhöhtes Krebsrisiko, insbesondere für Brustkrebs. Verheerend auch die Schäden, die ein Baby erleidet, wenn die Mutter in der Schwangerschaft trinkt. „Ethanol wird im Uterus langsamer abgebaut als im restlichen Körper, das Kind badet bis zu einem halben Tag in Alkohol“, sagt Seitz.

Traurige Vorstellung. Besser an etwas anderes denken. Ein Glas Rotwein wäre jetzt nicht schle ... So ein Schlückchen zum Vergessen. Ist das noch Genuss? Wo verläuft die Grenze zwischen risikoarmem Konsum und Abhängigkeit? Wo steht man selbst? Scheinen sich gerade viele zu fragen. Habe diesen Monat Pause gemacht. Trinke nur noch in Gesellschaft. Sollte echt mal aufs Feierabendbier verzichten. 

„Das eigene Trinkverhalten zu hinterfragen, ist wichtig“, sagt Therapeutin Budna-Lamla. „Sucht beginnt, wenn eine Substanz regelmäßig eingesetzt wird, um Gefühle nicht mehr spüren zu müssen“, sagt sie. Betroffene entwickeln zwanghafte Verhaltensmuster und trinken immer mehr. Hinzu kommen Kontrollverluste. „Das muss nicht gleich ein Vollrausch sein. Wenn man sich immer wieder vornimmt, nur ein Glas zu trinken und es nicht schafft, ist das schon schwierig.“ Meist veränderten sich die sozialen Kontakte oder die Betroffenen zögen sich zurück. 

Ein einfacher Selbsttest aus Sicht des Mediziners Helmut Seitz: „Wer für ein paar Wochen eine Pause einlegen kann, nicht ständig an Alkohol denkt und körperlich wie psychisch gut zurechtkommt, hat in der Regel kein problematisches Trinkverhalten.“ Wohl allen, die den Dry January gemeistert haben. Problematisch werde es, wenn man aufhören will und es nicht kann, weil der Körper nach Alkohol giert. Werde die Dosis langsam gesteigert, könne das ein Abgleiten in die Sucht bedeuten. 

Model Kendall Jenner wirbt für Tequila und betrinkt sich vor laufender Kamera

Die Gefahr von Alkohol wird Seitz zufolge verharmlost. Er sei salonfähig, billig und ständig verfügbar. Während andere Länder die Alkoholsteuer erhöhten oder den Verkauf einschränkten, werde hierzulande kaum etwas getan, um das Problem in den Griff zu bekommen. Seitz kritisiert das nahezu uneingeschränkte Marketing. Bislang wehrten sich Bier- und Weinhersteller erfolgreich gegen ein Werbeverbot. 

Die Vermarktung ihrer Getränke lassen sie sich einiges kosten – rund 477 Millionen Euro im Jahr 2020. Apropos Kosten, mehr als drei Milliarden Euro fließen dem Bundesfinanzministerium zufolge über Alkoholsteuern in die Staatskasse. Auf 57 Milliarden Euro werden die volkswirtschaftlichen Kosten geschätzt – etwa für die Gesundheitsversorgung oder durch Arbeitsausfälle. Ein bitteres Minusgeschäft. 

Aber zurück zur Werbung. Denn die verbindet Alkohol längst nicht mehr mit purer Männlichkeit. Neben dem martinischwenkenden George Clooney und dem sonnengegerbten Matrosen, der mit Bier in der Hand die Segel hisst, stöckeln Businessfrauen mit Sektglas durch die Wohnung, begießen den Umzug mit Rosé oder nippen mit sexy Blick am pastelligen Dosendrink. Ein Prosit auf die Emanzipation! Nur nicht mit dem harten Zeug, denn Gleichberechtigung hin oder her, Frauen mögen es doch süß, leicht und pinkfarben. 

Sie haben das Geschäft mit dem Alkohol längst für sich entdeckt. Model Kendall Jenner wirbt auf Social Media für Tequila und betrinkt sich direkt mal mit Schwester Kylie am Schminktisch. Model Cara Delevingne verhökert veganen Prosecco, Schauspielerin Cameron Diaz Bio-Wein. Unternehmerin Gwyneth Paltrow hat neben Fitnessprodukten und Kerzen, die nach Orgasmus riechen sollen, auch Quinoa-Whisky im Sortiment. 

Die paradoxe Botschaft: Alkohol lässt sich wunderbar mit einem gesunden Lebensstil vereinen. Schlank sein, Karriere machen und den Feierabend mit einem Gin Tonic begießen. Oder besser noch mit einem Wodka Soda. Der hat kaum Kalorien, wird auch charmant Skinny Bitch, also dürre Schlampe, genannt und gilt als Selbstoptimierungsdrink schlechthin. 

Der weibliche Körper ist übersteigerten Schönheitsidealen unterworfen

Denn bei aller Trinkfreudigkeit – Kalorien zählen auch im Rausch. Drunkorexia nennt sich das Phänomen, bei dem Betroffene weniger essen, um mehr kohlenhydratreiche alkoholische Getränke zu konsumieren und schneller betrunken zu werden. Hungern und Trinken. Kontrolle im Kontrollverlust. Keine seltene Mischung, sagt Suchttherapeutin Marta Budna-Lamla. Immer wieder sitzen ihr alkoholabhängige Frauen gegenüber, die dazu an einer Essstörung leiden. Oder tablettenabhängig sind. „Alkohol ist meist nicht das einzige Problem“, sagt sie. 

Auch die Journalistin Eva Biringer hangelte sich als Jugendliche mit Zigaretten, Haferflocken und Apfelstückchen durch den Tag. Später ließ sie Mahlzeiten zugunsten von Drinks weg, aß unregelmäßig oder im Rausch übermäßig. „Ich brauchte Jahre und die Hilfe einer Ernährungsberaterin, um ein halbwegs normales Essverhalten zu entwickeln“, sagt sie. Aller Body-Positivity-Hashtags zum Trotz sei der weibliche Körper immer noch übersteigerten Schönheitsidealen unterworfen. Auch das ein Grund, weshalb genderspezifische Suchtberatung so wichtig ist, findet die Sozialpädagogin Marta Budna-Lamla. Insgesamt gebe es in Deutschland ein gutes Netz an Hilfsangeboten. 

Eine der bekanntesten Anlaufstellen: Die Anonymen Alkoholiker. Holen sich auch dort immer mehr junge Frauen Hilfe? Anruf in der Zentrale in Dingolfing. Mehrere E-Mails später meldet sich Julia. 39 Jahre alt. Sozialwissenschaftlerin. Seit zehn Jahren trocken. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen. Sie sei für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Allgemeine Fragen zu Betroffenen könne sie nicht beantworten, der Verband erhebe keine Statistiken. „Aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass zu den Treffen viele junge Leute kommen, teils mehr Frauen als Männer“, sagt sie. Das Phänomen, dass gebildete Frauen Probleme mit Alkohol haben, sei nicht neu. Es sei nur lange nicht gesehen worden. 

Alkoholismus lasse sich nicht nur über Menge und Häufigkeit definieren. Entscheidend sei auch der Grund, warum jemand trinkt. „Ich hatte kein Problem mit Alkohol, sondern mit meinem Leben. Alkohol war die vermeintliche Lösung.“ Sie habe ständig über ihr Konsumverhalten nachgedacht, Regeln aufgestellt und nach Ausreden gesucht, um zu trinken – als Belohnung, zur Entspannung, zum Essen. „Ich habe versucht, kontrolliert zu trinken, um weitertrinken zu können“, sagt sie. Dabei hatte der Alkohol längst die Kontrolle über sie. 

Experte sagt: "Die Rückfallquote bei Alkoholabhängigen ist sehr hoch."

Die 39-Jährige will anonym bleiben, doch immer mehr Frauen erzählen offen von ihrer Sucht – in Büchern, Reportagen, auf Social Media. Auch Eva Biringer hat ihre Geschichte im Buch „Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen“ festgehalten. „Mir hat das Lesen über die Sucht geholfen, um mit dem Trinken aufzuhören“, sagt sie. „Vielleicht hilft meine Geschichte anderen.“ Zwei Versuche und eine Entwöhnungstherapie hat sie gebraucht. 

Als Alkoholikerin würde sie sich trotzdem nicht bezeichnen. „Ich mag den Begriff und das Bild nicht, das er transportiert“, sagt Biringer. „Ich habe nie morgens getrunken, hatte keine Entzugserscheinungen, trotzdem war ich abhängig.“ Bei der Frage, wo Sucht beginnt, gehe es auch viel um Selbsteinschätzung. Ihr Tonfall ist ruhig, fast abgeklärt. Und jetzt? Zweieinhalb Jahre nach dem letzten Schluck? „Alkohol interessiert mich nicht mehr. Das Verlangen ist weg“, sagt die 33-Jährige. Sie habe Glück, denn das gehe nicht allen so. 

Die Rückfallquote sei sehr hoch, sagt der Mediziner Helmut Seitz. Aber es gebe auch viele positive Beispiele von Menschen, die es geschafft haben, vom Alkohol loszukommen. Die Krankheit sei nicht heilbar, aber gut behandelbar. 

Biringer hat mit dem Trinken aufgehört. Manche aus ihrem Umfeld seien irritiert gewesen, doch inzwischen würden viele auch abstinent leben. „Ich glaube, dass Alkohol sein positives Image langsam verliert“, sagt Biringer. Die Zahlen geben ihr recht. Immer mehr Menschen in Deutschland verzichten auf Alkohol. ESA-Untersuchungen zufolge waren es 29 Prozent im Jahr 2018. Bei den 12- bis 17-Jährigen gilt Trinken zunehmend als uncool, ein Drittel der Teenager lebt abstinent. 

Die Gründe sind vielfältig, wie Menschen aus der Region. „Sober Curiosity“ heißt die neue Nüchternheit. Bars, Restaurants und Spätis werden unter dem Motto betrieben, Partys und Festivals mit alkoholfreien Drinks gefeiert. Dabei gehe es nicht darum, dass alle abstinent leben, sagt Therapeutin Budna-Lamla. „Aber wir sollten die Grenzen des risikoarmen Konsums kennen.“ Nachmittags mit einem pinken Wodka-Mixgetränk beim Bäcker in der Schlange zu stehen, überschreitet die Grenze.

Wann wird Alkohol zum Problem?

Eine erste Einschätzung über das eigene Trinkverhalten liefert der sogenannte CAGE-Test, der vier Fragen umfasst:

  1. Haben Sie jemals daran gedacht, weniger zu trinken?
  2. Haben Sie sich schon mal geärgert oder waren beleidigt, weil Sie jemand wegen ihres Alkoholkonsums angesprochen hat?
  3. Haben Sie sich jemals schuldig gefühlt, weil Sie Alkohol getrunken haben?
  4. Haben Sie jemals morgens als erstes Alkohol getrunken, um sich nervlich zu stabilisieren, in die Gänge zu kommen oder einen Kater loszuwerden?

Werden zwei Fragen mit Ja beantwortet, liegen wahrscheinlich Probleme im Zusammenhang mit übermäßigem Alkoholkonsum vor. Oder wie der Alkoholforscher Helmut Seitz sagt: „Wenn Sie zweimal oder mehr mit Ja antworten, gehen sie bitte zum Hausarzt.“ 

 
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