Die Deutschen verlieren den Appetit auf Fleisch. Mit 52 Kilogramm pro Person ist der Pro-Kopf-Verzehr in der Bundesrepublik 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 7,4 Prozent zurückgegangen. Als einer der Gründe dafür gilt der Trend zu pflanzenbasierter Ernährung. Parallel dazu ändern sich aber auch die Einstellung der Menschen zur Tierhaltung und ihre Erwartungen an die Landwirtschaft. Seit Jahren liegt in Befragungen des Bundeslandwirtschaftsministeriums eine artgerechte Haltung der Tiere auf Platz eins.
Fast 90 Prozent der Befragten wollen auch eindeutige Informationen über die Haltungsbedingungen auf der Verpackung. Eine ganze Reihe von Siegeln dazu gibt es bereits. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) will zusätzlich ein verpflichtendes staatliches Kennzeichen einführen. Das Projekt ist heftig umstritten. Doch was sagen die Siegel tatsächlich darüber aus, wie es den Tieren im Stall geht?
Lebensmittel-Gütesiegel für Fleisch: Im Ausland spielen deutsche Standards keine Rolle
Die schlechte Nachricht zuerst: Auch das geplante staatliche Siegel schafft nicht mehr Klarheit. Es soll zunächst nur frisches, unverarbeitetes Schweinefleisch im Handel nach fünf Qualitätsstufen klassifizieren. Später soll es auf die Gastronomie, Außer-Haus-Verpflegung und Betriebskantinen ausgeweitet werden und auch andere Tierarten und verarbeitete Produkte einschließen. Zum Start soll das Siegel aber nur transparent machen, wie die Schweine während der Mast gehalten wurden. Betäubungslos im Ausland kastrierte Ferkel könnten so nach Deutschland importiert werden und theoretisch in der höchsten konventionellen Haltungsstufe landen, warnt der Bauernverband, der eine Verzerrung des Wettbewerbs fürchtet.
Auch bei Tierschützern steht das Siegel in der Kritik. Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, moniert vor allem den seiner Ansicht nach fehlenden Ehrgeiz, mehr Tierschutz in die Ställe zu bringen. "Eine belastbare und glaubwürdige Aussage darüber, welches Tierschutzniveau hinter einem Erzeugnis steckt, ist nur dann gewährleistet, wenn alle wesentlichen Tierschutzaspekte berücksichtigt werden", sagte Schröder unserer Redaktion.
Tierhaltung und Tierwohl: Das Kupieren des Ringelschwanzes ist eigentlich verboten
Die beiden niedrigsten Stufen des geplanten Siegels hält Schröder, dessen Verband ein eigenes Siegel vergibt, für tierschutzwidrig. In der „Haltungsstufe Stall“ hat etwa ein 100 Kilogramm schweres Schwein nur 0,75 Quadratmeter Platz und bekommt keine Frischluft. In der Stufe „Stall+Platz“ sind es laut dem aktuellen Gesetzentwurf nur 12,5 Prozent mehr. Das neue Gesetz schaffe keine Anreize für Landwirte, auf bessere Haltungsformen umzustellen, da die dafür nötige Finanzierung ungeklärt bleibe. Zudem bringe es keine Dynamik zu einem Mehr an Tierschutz, da es kein Ablaufdatum für die beiden niedrigsten Stufen gebe.
Dass es bei der Tierhaltung Handlungsbedarf gibt, ist seit Jahren unumstritten. Schon 2015 erklärte der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium die Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere für nicht zukunftsfähig. Doch Fortschritt gab es seitdem nur in Trippelschritten. Noch immer wird etwa Mastschweinen in konventioneller Haltung in Deutschland regelmäßig der Ringelschwanz kupiert – obwohl das eigentlich europaweit verboten ist. So sollen Infektionen vermieden werden, die entstehen können, wenn die Tiere sich gegenseitig beißen – eine Verhaltensauffälligkeit, die Agrarwissenschaftler vor allem mit Stress durch die Haltungsbedingungen verbinden.
Verbraucher erwarten mehr von den Tierwohl-Auszeichnungen, als sie halten
Auch aus der 2019 vom Handel eingeführten vierstufigen Haltungsform-Kennzeichnung ist so etwas nicht abzulesen. Das System ist inzwischen sehr bekannt und in der Vergangenheit auf immer mehr Produkte ausgeweitet worden. Doch offenbar verstehen die Verbraucherinnen und Verbraucher die Auszeichnung oft falsch. Darauf deutet etwa eine Untersuchung der Uni Göttingen hin, die herausfand, dass die befragten Fleischesser insbesondere bei den Haltungsformen 2 ("Stallhaltung Plus") und 3 ("Außenklima") mehr von den Siegeln erwarteten, als sie in Wahrheit aussagen.
"Stallhaltung Plus" bedeutet eben nicht, dass die Tiere einen Bereich mit Stroheinstreu im Stall haben und "Außenklima" heißt nicht, dass sie nach draußen gehen können, sondern nur, dass es eine nach außen offene Stallseite oder einen überdachten Außenbereich gibt. Vor allem aber dominiert im Handel nach wie vor Fleisch der Haltungsstufen 1 und 2, auch wenn die großen Händler eine schrittweise Umstellung ihrer Sortimente auf höhere Standards versprechen.
Doch selbst eine Tierhaltung nach der höchsten Haltungsstufe oder nach Bio-Kriterien allein ist keine Garantie für Tiergesundheit, sagt Tierschutzbund-Präsident Schröder. Krankheiten oder Verletzungen können sich die Tiere auch in Betrieben zuziehen, die eine tiergerechtere Haltungsumgebung bieten. Wichtig sei über diese Grundbedingung hinaus daher das Management der Tierbestände, vor allem eine intensive Beobachtung der Tiere. Denn auf Verhaltensauffälligkeiten und Gesundheitsprobleme müsse schnell reagiert werden, auch im Interesse der Tierhalter.
Viele Landwirte stehen bei der Tierhaltung unter wirtschaftlichem Druck
Pauschal mit dem Finger auf die Tierhalter zeigen wollen aber auch die Tierschützer nicht. Denn das System ist komplex und es gibt eine Vielzahl sehr engagierter Landwirte. "Die wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft ist deutlich schwieriger geworden. Wer aber unter Druck steht, tut sich schwerer, die Tiere so zu halten, dass es ihnen gut geht", sagt Tierschutzbund-Referentin Stefanie Zimmermann.
Besonders kritisch ist die Lage für die Schweinehalter. Die Zahl der Betriebe ist in den vergangenen zwei Jahren um 17 Prozent auf nunmehr 3500 Betriebe zurückgegangen. Özdemir verspricht den Bauern eine Milliarde Euro für den Umbau der Ställe. Experten gehen aber davon aus, dass ein Vielfaches nötig sein wird – und das jedes Jahr. Der Bauernverband warnt vor einer Verlagerung der Produktion ins Ausland, wo deutsche Standards keine Rolle spielen.
Der Weg zu mehr Tierwohl ist also noch weit. Was können Konsumentinnen und Konsumenten heute schon machen, um den Umbau der Tierhaltung zu unterstützen? Agrarwissenschaftlerin Angela Bergschmidt, die für das Thünen-Institut am Projekt Nationales Tierwohl-Monitoring arbeitet, rät: Sich über die verschiedenen Haltungs- und Managementbedingungen informieren und beim Einkauf nur die tierischen Produkte zu kaufen, die den eigenen Vorstellungen entsprechen.