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VEITSHÖCHHEIM
Sehnsucht nach Grün statt Grau
Marianne Scheu-Helgert vor ihrem Kistengarten
Foto: LWG | Marianne Scheu-Helgert vor ihrem Kistengarten
Angelika Becker
Angelika Becker-Völker
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:20 Uhr

Stellen Sie sich vor, an der Fassade und auf dem Dach Ihres Hauses wächst Salat, duften Thymian und Rosmarin und leuchten rote Erdbeeren, reif zum Ernten. Das klingt doch nach Schlaraffenland. Nach Möglichkeiten, wie dieses Schlaraffenland Wirklichkeit werden könnte, suchen beispielsweise Florian Demling und Marianne Scheu-Helgert von der Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG) in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg) unter der Überschrift „Urban Gardening“.

Kisten-, Topf-, Dach- oder Fassadengärten

Nutzpflanzen, die nahe der Küche wachsen, seien früher eine Selbstverständlichkeit gewesen, sagt Marianne Scheu-Helgert. Und dieses Ernten am Haus ist auch eine Grundidee des „Urban Gardening“, eigentlich des Gärtnerns in der Stadt. Am umweltfreundlichsten und natürlichsten wüchsen Obst, Gemüse und Salat freilich direkt auf dem Gartenbeet, sagt die Fachfrau. Kisten-, Topf-, Dach- oder Fassadengärten seien aber eine Möglichkeit, dort Gemüse, Obst und Kräuter anzupflanzen, wo Flächen rar sind. Und sie tragen dazu bei, dass überbauter Grund grüner wird. Immerhin werden laut LWG in Deutschland jedes Jahr zehn Millionen Quadratmeter Dachfläche neu begrünt.

Florian Demling forscht zu urbanem Grün.
Foto: LWG | Florian Demling forscht zu urbanem Grün.

Das ist nicht nur schön fürs Auge und tut der Umwelt gut, weil es den Lebensraum für Tiere und Pflanzen erweitert, sagt Florian Demling. Er forscht bei der LWG im Institut für Stadtgrün und Landschaftsbau zu urbanem Grün und fand heraus: Grüne Dächer können mit wenig Zusatzaufwand auch für die Produktion von Nahrungsmitteln genutzt werden. Die Potenziale seien in Stadt und Land gleich. Da wie dort böten beispielsweise große Dachflächen in Gewerbegebieten, Parkplätze und leere Fassaden Platz für Gemüse, Obst und Kräuter.

Die essbare Stadt ist in aller Munde

Angst vor Luftschadstoffen etwa aus dem Autoverkehr brauchen Menschen, die Gemüse in der Stadt ernten möchten, offenbar nicht haben. Studien hätten gezeigt, dass die Werte in zehn Metern Entfernung von der Straße schon stark abfallen, vor allem wenn auch noch eine Hecke die Nutzpflanzen schützt, sagt Demling. Die „essbare Stadt“ ist in aller Munde. Unter anderem in Gerolzhofen (Lkr. Schweinfurt), Arnstein (Lkr. Main-Spessart), Kitzingen, Bayreuth und Bamberg in Oberfranken, Augsburg in Schwaben und Würzburg gibt es Projekte dazu.

Erste Ansprechpartner für Kommunen, Firmen oder Privatleute, die mit Formen dieses sogenannten „Urban Gardening“ liebäugeln seien die Gartenakademie der LWG oder Fachorganisationen wie der Fachverband für Bauwerkbegrünung oder der deutsche Dachgärtnerverband, sagt Demling. „Manches war einfach aus der Not geboren“, sagt Marianne Scheu-Helgert über die Anfänge des Gärtnerns in der Stadt. Die Urban-Gardening-Bewegung sei in England und den USA entstanden, erzählt sie. Menschen in tristen Stadtteilen wollten Grün ins Grau holen und gleichzeitig frisches Gemüse und Obst vor der Tür ernten. Zum Teil spielten auch politische und soziale Aspekte des Gärtnerns eine Rolle, etwa in den interkulturellen Gärten, sagt Scheu-Helgert. Beispiele dafür sind der Mehrgenerationengarten in Schweinfurt und der Campus-Garten in Würzburg. Das Miteinander der Menschen in der Stadt und das Bewusstsein für gesunde und regional erzeugte Lebensmittel spielen dabei eine Rolle.

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Foto: lwg

Pflücken erlaubt, statt Betreten verboten

Ein bisschen klingt es schon nach Schlaraffenland, was da auf der Seite der Stadt Andernach, einer preisgekrönten Vorreiterin der essbaren Städte in Deutschland, zu lesen ist: Dort lässt die Stadtverwaltung nämlich überall Obst, Gemüse, Salat und Kräuter anpflanzen und es heißt „Pflücken erlaubt“ statt „Betreten verboten“. Alle dürfen sich im Vorbeigehen bedienen, aber natürlich auch jäten.

Wer daheim mit einem Küchengarten beginnen möchte, bekommt bei der Gartenakademie der LWG Tipps. Die Gärtnerin und Agraringenieurin Scheu-Helgert empfiehlt Anfängern, Bäckerkisten, die es in Baumärkten gibt, zu bepflanzen. Je nach Platz kann man davon eine oder mehrere aufstellen. Gefüllt wird jede mit etwa 60 Litern hochwertiger Pflanzerde, am besten in der Region aus Kompost hergestellt. Dann wird gepflanzt. „Wichtig ist, den Platz schön auszunutzen“, sagt Scheu-Helgert. Im März könnten Kresse, Radieschen, Salatrauke und Kohlrabi gesät und Platz für zwei Tomatenpflanzen freigehalten werden (siehe Grafik).

Tomatenpflanzen brauchen viel Wasser

Die Hauptarbeit ist das Gießen, sagt die Fachfrau. Zwei Tomatenpflanzen brauchen zehn Liter Wasser am Tag, wobei gute Erde in der Kiste bis zu 30 Liter speichern kann. Düngen braucht man nur wenig, im ersten Jahr gar nicht. Nach den Eisheiligen werden die beiden Tomaten gepflanzt und im Sommer ein Töpfchen Basilikumpflanzen in der Kiste verteilt und ein paar Schnitt- oder Pflücksalate gesetzt, nicht zu dicht, damit sich die Blätter ausbreiten können. Mutig herauszupfen, was zu eng steht und Leerräume aushalten, empfiehlt Scheu-Helgert.

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Wer ein extensiv begrüntes Haus-, Garagen- oder Vordach in einen Gemüsegarten umwandeln möchte, muss nicht viel investieren. Demling rechnet mit Materialkosten von 25 bis 30 Euro pro Quadratmeter plus Pflanzen. Welche Rolle begrünte Fassaden mit automatisch bewässerten und gedüngten Behältersystemen für den Anbau von Essbarem in Küchennähe spielen können, testen Florian Demling und sein Team gerade. Im vergangenen Jahr bepflanzten sie dazu vier Versuchswände. Soviel kann Demling jetzt schon sagen: Zur Kühlung im Sommer, Wärme im Winter und Regenwasserrückhaltung können begrünte Fassaden einiges beitragen. Und im Vorbeigehen ein paar Erdbeeren zu pflücken, macht einfach Spaß.

Tipps

Urban Gardening bedeutet Garteln in der Stadt auf ungewöhnlichen Flächen wie Dächern oder Parkplätzen. Ein Ursprung der Bewegung wird in New York gesehen. Dort wollten Aktivistinnen die Lebensbedingungen in vernachlässigten Vierteln verbessern. Ihnen ging es nicht nur ums Grün und das Gemüse vor der Haustür, sondern auch um politischen Protest. Politische Aspekte haben auch Gartenprojekte in deutschen Städten. Es geht es beispielsweise um Integration und Solidarität. Eine Übersicht über Stadtgärten in Bayern, die Menschen zusammen bringen und die Stadtökologie verbessern wollen, gibt es im Internet unter: www.anstiftung.de/interkulturelle-gaerten-in-bayern
Städte grüner machen, will auch Bloggerin Silvia Appel alias Gartenfräulein. In ihrem Buch „Mein kleiner Stadtgarten“ (Ulmer Verlag, 16,90 Euro) zeigt sie, wie zwischen Beton und Asphalt ein Essen wachsen kann. „Es gibt nichts, was sich nicht bepflanzen lässt“, ist einer ihrer Grundsätze. Zuerst geht es um die Stadtgarten Basics, wie gute Erde, Mulch und natürlich Wasser. Appel zeigt, dass sich fast alles zu einem Pflanzengefäß umfunktionieren lässt: Tetrapaks, leere Blechdosen, Holzkisten, ja sogar Möbel. Und dann kann gepflanzt werden: Chilis, Paprika und Tomaten liegen besonders im Trend. Jeder Vorgarten oder Hinterhof sieht hübscher aus, wenn es dort blüht. „Hortensien, Hibiskus, Lavendel und Kräuter bringen Duft und Farbe in den Hof.“ In dem reich bebilderten Buch finden sich praktische Tipps zum Gärtnern in der Großstadt, kreative Anregungen für Deko und viel Kreatives zum selber machen.
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