Es sind nicht wenige Europa-Abgeordneten, die sich an diesem Dienstag im Straßburger Plenum verschaukelt fühlen. „Wir sind angetreten, damit die Bürger günstiger telefonieren und im Internet surfen können“, sagt beispielsweise die SPD-Abgeordnete Kerstin Westphal. „Die Kommission hat jedoch die Roaming-Zuschläge mit der Netzneutralität verbunden. Wir lassen uns nicht erpressen.“
Die Liste der Nein-Sager ist lang, trotzdem revolutionierten die Volksvertreter der 28 Mitgliedstaaten mit einer deutlichen Mehrheit beides: das mobile Telefonieren im Ausland und das Internet. Aber in völlig unterschiedliche Richtungen.
Da wäre zunächst die gute Nachricht: Zur Reisesaison 2017 sollen die Aufschläge für abgehende und ankommende Gespräche, Kurzmitteilungen (SMS) oder mobiles Internet endgültig wegfallen. Zuvor sinken die Preise am 30. April 2016 noch einmal auf fünf Cent pro Gesprächsminute, zwei Cent pro SMS und fünf Cent pro Megabyte Daten – plus Mehrwertsteuer.
Heute sind es 19 Cent für abgehende Anrufe aus dem EU-Ausland, sechs Cent pro SMS und 20 Cent pro MB Daten. Die Verbraucher werden entlastet.
Doch die Debatte über das Telekom-Paket, das mit der Beschlussfassung sofort in Kraft treten kann, wird von der Debatte über die Netzneutralität überlagert. Vereinfacht gesagt geht es um die Frage, ob auch künftig das Video von Amazon oder Netflix genauso schnell übertragen wird wie ein Streaming-Musikdienst oder der private Blog einer Hobbygärtner-Runde.
Die Internet-Gemeinde bangt um die Existenz des Netzes in seiner heutigen Form. Dabei hat sich das EU-Parlament eigentlich gegen ein „Zwei-Klassen-Netz“ ausgesprochen. „Niemand soll sich das Recht erkaufen können, eigene Daten schneller zu transportieren als andere“, hatte die Kommission wiederholt betont.
Und auch Digital-Kommissar Günther Oettinger sagte mehrfach, selbst Spezialdienste wie Telemedizin oder TV im Internet dürften andere Nutzungen weder verdrängen noch ausbremsen. „Das Verkehrsmanagement darf nicht diskriminierend sein“, heißt es dazu in dem Beschluss.
Doch die Kritiker fürchten, dass sich zahlungskräftige Anbieter Hintertüren und schwammige Formulierungen zunutze machen könnten. Die Diskussion hängt sich dabei vor allem an dem Begriff der „Spezialdienste“ auf, von dem selbst ein Gutachten der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei sagt, er lasse „alles offen“.
Fällt beispielsweise die Telefonie via Internet des Anbieters Skype darunter? Oder könnte ein Konzern wie Amazon mit den Providern zusätzliches Datenvolumen aushandeln, damit die eigenen Videos auf einer Art Überholspur am Daten-Stau vorbei transportiert werden?
„Das wäre stark wettbewerbsverzerrend“, meinte die medienpolitische Sprecherin der Europa-SPD, Petra Kammerevert. Der Widerstand entzündete sich nicht zuletzt am neueren Modell einiger Anbieter, die unter dem Stichwort „zero-rating“ zusammengefasst werden.
Dabei bieten Internet-Provider und auch Mobilfunkkonzerne den Kunden an, bestimmte Dienste über ihr Netz kostenfrei und zusätzlich zum übrigen gebuchten Datenvolumen abrufen zu können.
Ein reizvoller Lockruf, bei dem kleine und mittelständische Unternehmen sowie Start-ups außen vor bleiben. Die Kritiker hoffen deshalb, wesentliche Teile dieser Netz-Regulierungen noch aushebeln zu können, wenn Oettinger demnächst seine digitalen Ausbaupläne vorlegt. Dann wird die Netzneutralität erneut ein großes Thema sein.