Die Medien lenkten Anfang Oktober den Blick wieder auf die Massaker, die sich vor zehn Jahren im Nordirak ereigneten. In Nachrichtensendungen war eine Frau zu sehen, die nach israelischen Angaben vor zehn Jahren als Elfjährige von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) im Irak verschleppt worden war und im Gazastreifen nun gerettet wurde. Die Frau gehört zur religiösen Gruppe der Jesiden. Das Schicksal könnte im neuen Buch von Ronya Othmann stehen. Die Autorin dokumentiert den Völkermord an den Jesiden. Mit ihrem neuen Werk steht sie auf der Liste der Kandidaten für den Deutschen Buchpreis, der am 14. Oktober verliehen wird.
Real, nicht fiktiv
Man wünscht sich, dass das, was in Othmanns Roman „Vierundsiebzig” steht, Fiktion ist. Doch wenn man beim Lesen Namen, Geschehnisse, Orte oder Videos, die die Schriftstellerin und Journalistin im Roman erwähnt, googelt, bekommt man einen Schreck - es ist real. Das Buch ist Augenzeugenbericht, Dokumentation, Tagebuch, Transkription von Interviews, Reisebericht und Roman in einem. Othmann will das, was am 3. August 2014 begann, für die Nachwelt sichtbar machen: Ermordung, Verschleppung und Vertreibung vieler Tausender Jesiden durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Orte, die quasi verschwunden sind.
Es ist klug, dass Othmann dafür das Genre Roman nutzt. Denn sie zieht weitere Ebenen in ihr Werk ein. Sie macht sich als Jesidin in Deutschland immer wieder Gedanken darüber, wie man das Geschehene erinnern kann. Wie man das alles verarbeitet. Und sie überlegt, was Sprache, Text, Video und Audio leisten kann. Im Buch heißt es an einer Stelle: „Aber wie erzählt man von den Toten und wie von den Verschwundenen, die in diesem Niemandsland, dieser Schwebe zwischen Leben und Tod festhängen? Jeder Text, den ich schreibe, kann nur unvollständig sein, wenn nicht gar völlig irreführend.” Die Erzählerin im Roman ist die Autorin selbst. „Ich will mich aus dem Text streichen. Nur noch Auge und Ohr sein. Ein Tonband, ein Filmband. Ein Tonband, das nicht kaputtgeht von dem, was es hört.”
Als Journalistin und Schriftstellerin, die 1993 in München geboren wurde und in Leipzig lebt, führte sie Gespräche mit Jesiden, die bis heute in Flüchtlingscamps leben müssen. Othmann besuchte Gerichtsprozesse gegen IS-Anhänger, hörte Opfern zu. Sie ging in Bibliotheken und las über die Geschichte der Jesiden. Sie reiste mehrmals in die Region, auch ihr Vater war dabei. Sie macht sich aber auch Gedanken um ihre eigene Rolle. Im Buch heißt es: „Als ich das Foto später einem Freund schicke, schreibt er: Wo ist deine journalistische Distanz? Er schreibt: Du posierst, als wärst du eine von ihnen.”
Zwischendurch das Buch weglegen
Das Buch lässt sich nicht leicht lesen, der Inhalt wiegt zu schwer. Beim Lesen muss man es zwischendurch immer wieder weglegen, um die vielen schlimmen Schicksale überhaupt zu begreifen.
Es ist Othmanns zweiter Roman. In ihrem Debüt „Die Sommer” ging es auch um das Leben in der Region. Aber das erste Buch hatte viel stärker einen erzählenden und weniger dokumentarischen Charakter. In dem Roman ging es um die junge Leyla, die aus Deutschland in den Sommerferien zu ihrer Verwandtschaft in das Dorf ihrer Großeltern verbringt.