In seinem Reich ging die Sonne nie unter, heißt ein bekannter Spruch zu Kaiser Karl V. Denn der Habsburger herrschte im 16. Jahrhundert nicht nur über Deutschland, Österreich und Flandern, sondern als spanischer König auch über ein riesiges Kolonialreich in Mittel- und Südamerika. Dieser Kaiser in all seiner Allmacht interessiert Arno Geiger indes nicht. In seinem Roman „Reise nach Laredo” richtet der österreichische Schriftsteller seinen Fokus vielmehr auf einen alten Mann, der bald stirbt. Der Macht müde und von zahlreichen Gebrechen geplagt, hat Karl abgedankt und sich in das spanische Kloster Yuste zurückgezogen. Hier wartet er auf den Tod und sein Seelenheil.
Nur wenige Vertraute wie sein Leibarzt, sein Chronist und sein Beichtvater sind ihm geblieben, außerdem ein begrenzter Hofstaat aus Bediensteten aus dem nahen Dorf. Sie alle langweilen sich an dem abgelegenen Ort zu Tode. Die Tage sind von trostloser Gleichförmigkeit und drehen sich vor allem um die Pflege des kranken Mannes, der einmal der mächtigste Herrscher des Universums war. Alle wünschten, es wäre bald vorbei. Aber Karl hat noch etwas zu erledigen: „Er hat seine Kronen abgelegt in der Absicht, sich vor Gott in höchst eigener Person zu verantworten. Voraussetzung war, dass er herausfinden musste, wer diese höchst eigene Person ist ohne die abgelegten Kronen. Er hatte angenommen, dass ihm das rasch gelingen werde. Doch seit zwei Jahren kann er sich keine befriedigende Antwort geben, es fällt ihm nicht viel dazu ein. Er erkennt nur, dass er nichts Wichtiges über sich weiß und dass wenig Zeit bleibt, dahinterzukommen.”
Abenteuerlicher Roadtrip mit schockierenden Erfahrungen
Der einzige Lichtblick in Yuste ist ein elfjähriger Junge namens Geronimo. Er ist ein illegitimer Sohn des Kaisers, weiß aber nichts von seinem Glück. Er wächst beim Majordomus auf. Der mürrische Vater und der hübsche aufgeweckte Sohn sind sich räumlich nah, leben aber doch aneinander vorbei. Eine der vielen verpassten Gelegenheiten in Karls Leben, wie er schmerzlich spät erkennt. Könnte es nicht anders sein?
In Geigers Roman erhält der abgedankte Kaiser noch einmal die wundersame Gelegenheit zu einem Aufbruch, zusammen mit seinem verleugneten Sohn Geronimo. Ein abenteuerlicher Roadtrip führt die beiden quer durch die spanische Meseta bis zum nördlichen Küstenort Laredo. Auf dieser Reise lernt Karl sein Land von einer bisher unbekannten Seite kennen. Er macht dabei auch gefährliche und schockierende Erfahrungen. So wird er Zeuge einer schlimmen Folterszene. Opfer sind zwei „Cagots”, Angehörige einer diskriminierten und verfemten Minderheit. Das gerettete Geschwisterpaar wird Teil der seltsamen Reisegruppe. Die jugendlichen Begleiter zeigen dabei jene Zugewandtheit, Offenheit und Lebendigkeit, die der verschlossene alte Mann in seiner Kindheit an der Seite einer kalten Mutter so schmerzlich vermissen musste.
Historischer Hintergrund wird knapp abgehandelt
Natürlich weiß der Leser inzwischen längst, dass Karls Reisen sich nur im eigenen Kopf abspielen, es ist ein einziger hitziger Fiebertraum unter der berauschenden Wirkung des von ihm reichlich konsumierten Laudanums. Geiger macht diese Fieberwahnreise des sterbenden Kaisers zu einem langen, etwas arg ausschweifenden Selbsterkundungstrip, bei dem er manchmal die Richtung zu verlieren scheint. Seine Sprache bleibt dabei von magischer Kraft, selbst wenn er die vielen Gebrechen, den schlechten Geruch und den mühseligen Alltag des abgedankten Kaisers beschreibt.
Wer „Reise nach Laredo” aber als einen historischen Roman über Karl V. in die Hand nimmt, der wird vermutlich enttäuscht sein. Der historische Hintergrund wird denkbar knapp abgehandelt. Nur ganz nebenbei erfährt man etwa von Karls berühmter Mutter Johanna der Wahnsinnigen und seiner geliebten verstorbenen Frau Isabel. Auch Geronimos Schicksal lässt der Autor im Dunklen. Er wurde unter dem Namen Juan de Austria ein berühmter Feldherr.