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KONSTANZ
Wie ein Lokführer mit Suiziden umgeht: „Du hörst das Geräusch. Das vergisst du nicht.“
Kann ein Lokführer darüber hinwegkommen, wenn sich ein Mensch vor den Zug wirft? Jürgen Joos hat das zweimal erlebt. Er sagt: Das geht nur, wenn man sich emotional entmenschlicht. Mancher Kollege schafft das aber nicht.
Am Bahnhof Reichenau (Baden) ist ein Seehas eingefahren. In der Nachbarschaft befindet sich das Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau. Aufgrund der Nähe kommt es auf dem Streckenabschnitt gelegentlich zu (tödlichen) Vorfällen mit Patienten der Einrichtung. (Symbolbild)
Foto: Kerstin Steinert | Am Bahnhof Reichenau (Baden) ist ein Seehas eingefahren. In der Nachbarschaft befindet sich das Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau.
Kerstin Steinert
 |  aktualisiert: 22.12.2023 03:14 Uhr

„Sie wird doch wohl nicht..?“ Der Satz, mit düsterer Vorahnung ausgesprochen, bleibt unvollendet. Und der 7. Juli 2017 Jürgen Joos für immer im Gedächtnis. Er hat sich eingebrannt. Es ist der Tag, an dem sich eine junge Frau entschlossen hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Durch ihn. Obwohl sie ihm noch niemals begegnet ist, ihn auch niemals kennenlernen wird.

Joos ist Lokführer bei der SBB Deutschland. Er fährt einen Seehas. Damit ist er mit einem der heikelsten Themen des Menschseins konfrontiert: Suizid. Doch wie spricht man über Selbsttötung? Ist es besser, darüber zu schweigen oder das Thema zu enttabuisieren?

Es gibt unterschiedliche Meinungen dazu. Sollten Medien das Thema lieber nicht behandeln? Doch, sollten sie, sagt die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS): Über Suizid zu sprechen, kann Leben retten. Deshalb haben wir uns als Redaktion dazu entschlossen, genau das zu tun.

Der Tag, an dem ein Leben endete

Einer, der mit uns über einen seiner schwersten Tage sprechen möchte, ist Jürgen Joos. „Weil ich auch präventiv wirken möchte“, begründet er seine Entscheidung und erinnert sich an jenen Tag, an dem ein Leben in seiner Schicht endete.

Jürgen Joos arbeitet bei der SBB Deutschland als Lokführer und ist Teamleiter der Lokführer.
Foto: Kerstin Steinert | Jürgen Joos arbeitet bei der SBB Deutschland als Lokführer und ist Teamleiter der Lokführer.

Es ist früher Abend. Joos fährt mit dem Seehas von Hegne Richtung Konstanz. Sein Zug hat leichte Verspätung. Er ist kurz vor dem Haltepunkt Reichenau (Baden). Neben Joos sitzt im Führerstand ein Auszubildender. Er blickt auf die Seite, sieht im Gebüsch eine Frau sitzen und beginnt den Satz, der noch lange in Joos nachhallt. „Sie wird doch nicht...?“ Doch, sie wird! „Sie ist auf die Gleise gesprungen“, erzählt Joos.

10.000 Menschen wählen den Freitod

Jedes Jahr sterben mehr als 10.000 Menschen in Deutschland durch einen Suizid. Rund 500 Menschen nutzen dabei ein „sich bewegendes Objekt“, dem sie sich in den Weg stellen, legen, werfen. Das ergibt sich aus dem Gesundheitsberichts des Bundes. Suizid ist damit Ursache für mehr Todesfälle als Verkehrsunfälle (rund 3000), illegale Drogen (2000) und Gewalttaten (2000) zusammen.

Offizielle Statistiken, wie oft im Landkreis Konstanz auf diese Art ein Mensch zu Tode kommt, gibt es nicht. Die Polizei führt solche Listen nicht. Auch, weil die Selbsttötung keinen Straftatbestand erfüllt, erklärt Dieter Popp, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Konstanz. „Wenn ein Suizid vorliegt, kann gegen niemanden ermittelt werden“, sagt er. Auch die Lokführer seien in diesem Zusammenhang eher Zeugen. „Sie tragen in der Regel keine Verantwortung“, sagt er.

Ist das so? Fühlt sich ein Lokführer nicht doch irgendwie verantwortlich? Wie gehen sie damit um, wenn dieser schlimme Fall eintritt? Joos antwortet nüchtern: „Man funktioniert.“ Was anderes sei gar nicht möglich. „Wir Lokführer werden auf solche Vorfälle vorbereitet. Eine Empfehlung ist, sich selbst in dem Moment zu entmenschlichen, zur Maschine werden“, sagt er. Man sei nur Teil eines Werkzeuges. Des missbrauchten Werkzeuges Zug.

Egon Walder war auch schon mehrmals in der gleichen Situation wie Joos. „Ich selbst war mehrere Jahre Lokführer bei der SBB in der Schweiz“, erklärt er. Heute sitzt er nicht mehr im Führerstand, sondern berät und betreut Verkehrsunternehmen und ihre Mitarbeiter und Kunden. „Es ist die Aufgabe von Unternehmen, die Mitarbeiter auf die möglichen Risiken und Gefahren vorzubereiten“, sagt er. Suizid auf den Schienen sei eben eine dieser Gefahren. Walder bereitet sie auf die Herausforderungen vor. Deshalb gibt er regelmäßig Aus- und Fortbildungskurse, kümmert sich aber auch um Betroffene.

„Wenn der Lokführer in dieser Situation wichtige und wesentliche Handlungen abrufen kann, behält er seine Kontrolle und durch sein abgeklärtes, kompetentes Verhalten nimmt er Einfluss auf das Umfeld. Kontrolle zu behalten ist ein wichtiger Schutz für ihn selbst“, erläutert Walder. Das heißt: sich emotional zurücknehmen, wie ein Werkzeug funktionieren.

Lokführer werden zu Werkzeugen

Ein paar Jahre später nach dem ersten miterlebten Suizid wird Joos wieder zum Werkzeug. Diesmal für einen jungen Mann. „Er stand einfach da. Zwischen Wollmatingen und Fürstenberg“, erzählt der Lokführer. Es ist Anfang 2021. Wieder am Abend und stockfinster. Plötzlich sieht der Lokführer vor seiner Frontscheibe ein Gesicht. „Der Mann hat sich umgedreht und mich direkt angeschaut“, erinnert er sich. Das sei ein richtiger Schockmoment gewesen.

Doch diesmal geht Joos anders an die Sache ran. „Über die Frau weiß ich ein paar Dinge. Aber das erzeugt auch Bilder. Das geht einem schon näher“, sagt er. Über den Mann weiß er nichts. Das sei besser so. Nur der Vorfall selbst bleibt ihm in Erinnerung.

Joos denkt an jenen Abend zurück. Es gibt einen dumpfen Aufprall. Der Zug rumpelt. „Du spürst den Widerstand und hörst das Geräusch, wie etwas gegen den Zug schlägt. Das vergisst du nicht“, sagt Joos und stockt. Erst nach einer Pause spricht er weiter. Distanziert. Er funktioniert wieder.

Joos erzählt, wie er die Notbremsung einleitet. Hunderte Meter nach dem Aufprall kommt der Zug zum Stehen. Ohne groß nachzudenken, tritt er die Meldekette los: Notruf beim Fahrdienstleiter absetzen, Gleis sperren, Blackbox sichern, Fahrgäste im Zug informieren und beruhigen. „Das alles passiert innerhalb von wenigen Minuten“, sagt er.

Unfälle sind schwerer zu verkraften

Von Betriebsstörung, Personenschaden oder Notarzteinsatz am Gleis ist dann oft die Rede. Diese Codes lösen Bilder in den Köpfen der Fahrgäste aus. Die wenigsten Menschen werden den wahren Grund der Betriebsstörung sehen. Denn der Bremsweg eines Zugs ist lang. Je nach Geschwindigkeit liegt er zwischen 250 und 600 Metern. Der Tote liegt dann weit hinter dem Zug.

„Es ist gut, dass man nichts sieht“, sagt Joos. Doch es gebe leider auch Ausnahmen. Im Juli 2023 kam es am Bahnübergang auf der Schneckenburgstraße in Konstanz zu einem Unfall. Ein Mann wollte noch schnell mit seinem Fahrrad die Gleise überqueren, obwohl die Halbschranken schon unten waren. Ein Seehas kam. Zu schnell für den Radfahrer. Der Zug erwischte den Mann.

Doch weil der Seehas schon vorher am Abbremsen für den Halt in Petershausen war, hält der Zug so, dass einige Fahrgäste den Toten sehen können. Bilder, die man nicht mehr löschen kann, brennen sich ein. „Unfälle nehmen einen manchmal mehr mit. Denn man fragt sich als Lokführer, ob man ihn hätte verhindern können“, sagt Joos.

Deshalb habe man auch immer ein besonderes Auge auf Kinder oder Kinderwagen am Bahnsteig. Der Sog eines vorbeifahrenden Zuges könne sie ins Gleisbett reißen. Wenn Kinder involviert sind, sei das der „Worst-Case“ – der schlimmstmögliche Fall. Einen Selbstmörder, der entschlossen sei, könne man dagegen nicht aufhalten.

Zurück in die Job-Routine

Nur mit diesem Gedanken ist es Joos möglich, seinen Job, den er seit über 15 Jahren ausübt, weiter zu machen. „Es gibt Kollegen, die können danach nicht mehr arbeiten“, sagt er. Jeder gehe damit anders um. „Einige Tage ist man automatisch krankgeschrieben. Danach gibt es eine Wiedereinführungsfahrt und eine Beurteilung über den eigenen Zustand“, sagt Joos. Eine zu lange Pause sei, zumindest bei ihm, kontraproduktiv. „Damit man keine Ängste entwickelt, muss man zurück in die Jobroutine.“

Jürgen Joos hat wieder zurückgefunden. Auch der Seehas-Lokführer, der im Sommer den Radfahrer erwischt hatte, ist wieder im Einsatz. Ebenso der Azubi, der mit Joos im Führerstand saß. Er hat seine Ausbildung beendet und fährt mittlerweile selbst einen Seehas. Aber diesen einen Tag während seiner Ausbildung wird er wohl nie vergessen. Und wohl auch nicht den unvollendeten Satz.

Hilfsangebot für suizidgefährdete Menschen

In der Regel berichtet die Main-Post nicht über Selbsttötungen, außer die Umstände erlangen besondere Bedeutung in der Öffentlichkeit. Wenn Sie Gedanken quälen, sich selbst das Leben zu nehmen, dann kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.
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