Draußen sichert ein massives Metallgitter den kleinen Laden, drinnen eine Überwachungskamera. Ein Monitor neben der Anzeigetafel für die Lottoquoten zeigt jede Bewegung. Doch die Sicherheitsvorkehrungen helfen wenig. "Jeden Tag gibt es Ärger", sagt Sam Hanna, der Besitzer von F&M Smokes, Wine and Liquor in San Franciscos Büroviertel SoMa, frustriert. Meistens sind es einzelne Personen, die Zigaretten oder Alkohol mitgehen lassen. Vergangene Nacht aber haben gleich acht Männer versucht, die Tür aufzubrechen. Der Alarm sprang an. Hanna rief die Polizei. "Aber die ist nie aufgetaucht", klagt der 46-Jährige.
Hanna ist Unsicherheit gewohnt. Als Kind zog er mit seinem Vater von der US-Westküste nach Palästina. Die Rückkehr in die USA mit Mitte zwanzig war wie eine Verheißung. Heute hat der Ladenbesitzer über seine Wahlheimat nicht mehr viel Positives zu erzählen: "San Francisco ist voll mit Drogenhändlern und Kriminellen. Es ist beängstigend geworden", meint er.
Dabei liegt sein Liquor Store in einer traditionell guten Gegend. Schräg gegenüber ragt der im Art-déco-Stil errichtete Wolkenkratzer 140 New Montgomery in den Himmel, der nach dem Ersten Weltkrieg die Telefongesellschaft Pacific Bell beherbergte und 2013 nach einer aufwendigen Renovierung vom Bewertungsportal Yelp zu dessen repräsentativen Hauptquartier auserkoren wurde. Yelp hat seine Büros geräumt, neun Etagen sind verwaist. Der Portier in dem mit schwarzem Marmor und einer Golddecke ausgestatteten Foyer schaut an diesem Morgen gelangweilt in die menschenleere Halle.
Draußen, um die Ecke, hat das Ristorante Umbria für immer die Rollläden heruntergelassen. Die Juice Bar hat aufgegeben. Die hellen Räume von Werqwise, wo einst Digitalnomaden für ein paar Stunden einen Arbeitsplatz mieteten, stehen zum Verkauf. Auf dem Bürgersteig hat sich ein Obdachloser ausgestreckt. Apathisch hält er einen Plastikbecher mit ein paar Dollarnoten in der Hand.
Scott McKenzie sang einst von sanftmütigen Menschen mit Blumen im Haar – die Realität heute ist eine ganz andere
San Francisco ist das Traumziel von Millionen Touristen: die pastellfarbenen viktorianischen Häuschen, die ratternden Cablecars und die pittoresk in Nebel gehüllte Golden Gate Bridge wecken weltweit die Sehnsucht, einmal dort sein zu wollen. Und immer noch Scott McKenzies Hippie-Hymne: "If you're going to San Francisco / Be sure to wear some flowers in your hair". Das bleibende Bild einer Stadt, in der sanftmütige Menschen mit Blumen im Haar anzutreffen seien, in einem Sommer der Liebe.
Die Realität sieht anders aus. Schon lange kämpft die 800.000-Einwohner-Metropole mit dem Problem einer extremen sozialen Spaltung, mit Obdachlosigkeit und Drogen. Die rasante Ausbreitung der Todesdroge Fentanyl, der Exodus der Techbranche und der Niedergang des stationären Einzelhandels drohen nun, einen "perfect storm", einen "perfekten Sturm" auszulösen. Die Wendung steht im übertragenen Sinne für eine große Katastrophe, dafür, dass es nicht schlimmer kommen könnte.
Entlang der Market Street haben in den vergangenen Monaten Dutzende Geschäfte – vom Inneneinrichter Crate & Barrel bis zu den Klamottenmarken Abercrombie & Fitch und Old Navy – geschlossen. Die neunstöckige Westfield-Mall mit einstmals 180 Läden steht vor dem Aus. Die Zukunft des Hilton-Hotels am Union Square mit 1900 Betten ist nach dem Rückzug der Eigentümer ungewiss. Ein Drittel aller Büroflächen ist frei zur Vermietung. Und immer öfter klagen die Bürgerinnen und Bürger über Ladendiebstähle und Autoaufbrüche. San Francisco, die Stadt der Blumen, verwelkt.
"Was ist, wenn San Francisco nie mehr aus der Abwärtsspirale herausfindet?", fragt eine Zeitung
"Die leerste Innenstadt Amerikas", schrieb die New York Times, es war eine der freundlicheren Beschreibungen. "Postapokalyptisch" nannte Elon Musk, der launenhafte Eigentümer von Twitter, die Zustände in der City: "Man könnte hier Walking-Dead-Episoden filmen." Eine Zombie-Serie also. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber RonDeSantis nahm kürzlich in der "kollabierten Stadt" einen politischen Werbespot auf. Und das Wirtschaftsblatt Financial Times fragte besorgt: "Was ist, wenn San Francisco nie mehr aus der Abwärtsspirale herausfindet?"
"Inzwischen rufen Freunde von außerhalb an und fragen, ob es mir gut geht", mokiert sich Jeff Cretan. Der Kommunikationsdirektor von Bürgermeisterin London Breed hat sein Büro im zweiten Stock des Rathauses, dessen Kuppel höher ist als die des Washingtoner Kapitols. "Natürlich gibt es Sorgen", sagt er, "aber vieles wird total übertrieben." Die Geschichte, die der Politstratege erzählt, ist die einer Stadt, deren Immobilienwerte dank des Techbooms lange überzeichnet waren, die dann durch die Corona-Pandemie gewaltig durchgeschüttelt wurde und sich gerade neu aufstellt. "Wir sind eine ziemlich sichere Stadt", betont Cretan und verweist auf die vergleichsweise niedrige Mordrate. Allerdings gebe es "Herausforderungen" bei Eigentumsdelikten, die vielfach mit der Drogenproblematik zusammenhingen. Beides konzentriere sich jedoch in einem Teil der Innenstadt. "Fisherman's Wharf und die Waterfront gehören nicht dazu", sagt er zur Beruhigung der Touristen, die sich vor allem dort aufhalten.
Im Bezirk Tenderloin in San Francisco kann man dem Elend nicht entgehen
Der Augenschein belegt: An der Golden Gate Bridge oder im neuen In-Viertel Haynes Valley werden Besucherinnen und Besucher von den Problemen tatsächlich wenig mitbekommen. Zwei Blocks von City Hall entfernt, im Bezirk Tenderloin, aber kann man dem Elend nicht entgehen. Überall vegetieren Menschen auf den Bürgersteigen vor sich hin, durchwühlen Mülleimer nach Essbarem und werden in zugedröhntem Zustand mitunter aggressiv. "Kauf mir ein Mittagessen!", brüllt ein Mann einen Passanten an. Der Gestank von Urin hängt in der Luft. Direkt vor der Polizeistation an der Eddy Street setzt sich ein Süchtiger mit halb herunterhängender Hose eine Spritze. Die meisten sind abhängig von Fentanyl, ein Opioid, das in Pillen- oder Pulverform gehandelt wird und 50-mal stärker ist als Heroin. 346 Menschen sind in den ersten fünf Monaten dieses Jahres an einer Überdosis gestorben, fast so viele wie im gesamten Jahr 2019.
Eine Dosis Fentanyl kostet in San Francisco acht Dollar, sie "hält" für eine halbe Stunde. Das heizt die Beschaffungskriminalität auch in touristischen Teilen der Innenstadt an. Immer wieder wird entlang der Market Street geplündert. Bisweilen werden Passanten mit Gegenständen beworfen. An ein entspanntes Shopping-erlebnis ist da nicht zu denken.
Ein paar Straßen weiter, rund um den Union Square, sieht es etwas freundlicher aus. Das liegt auch an den Aktivitäten der Union Square Alliance, einer Vereinigung von Geschäftsleuten, die einen Sicherheitsdienst und zwei zusätzliche Streifenbeamte bezahlt, Straßen und Bürgersteige regelmäßig säubern lässt, Blumen pflanzt und mit Konzerten Leben in die City zu bringen versucht. "Unser Auftrag lautet: sauber und sicher", erklärt Geschäftsführerin Marisa Rodriguez.
Politik und Polizei stehen unter Druck – und der Imageschaden ist groß
Die eloquente Juristin wertet vor allem die Corona-Pandemie als Auslöser der aktuellen Krise. San Francisco hat die Lockdowns früher und nachhaltiger verhängt als andere Regionen. Darunter litten Handel und Hotels, die in der Innenstadt konzentriert sind. Gleichzeitig blieben Büros leer. Nirgendwo stiegen die Beschäftigten so radikal aufs Homeoffice um wie in der im Großraum San Francisco dominierenden Techbranche. Jetzt ist die Pandemie vorbei, und 150.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nicht an ihre Schreibtische in der City zurückgekehrt. Das Zentrum ist regelrecht entvölkert. Die Mobilfunknutzung erreicht noch 30 Prozent des Vor-Corona-Niveaus. "Viele Herausforderungen der Alltags- und Drogenkriminalität gibt es seit langem", sagt Rodriguez: "Aber jetzt, da das Gewusel auf den Straßen weg ist, wird das plötzlich ungeschönt sichtbar."
Das setzt die Politik unter Druck. Wegschauen ist nicht mehr möglich. "Wir haben traditionell eine Kultur der Milde hier in San Francisco", erklärt Rodriguez weiter, sie war einmal Staatsanwältin. "Aber wir haben nicht gesehen, dass Menschen das ausnutzen." Nun hat sich die Stimmung gedreht: Ein linker Bezirksstaatsanwalt, der die Entkriminalisierung von Drogendelikten vorantrieb, wurde vor einem Jahr per Volksentscheid seines Amtes enthoben. Bürgermeisterin Breed, die 2024 wiedergewählt werden möchte, propagiert ein härteres Durchgreifen gegen die Drogenszene. Der Imageschaden ist groß: Erstmals in ihrer Geschichte muss die örtliche Marketingagentur eine sechs Millionen Dollar teure Werbekampagne schalten.
Polizeichef Scott verspricht: "Wir wollen die Leute für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen"
"Die Leute sind frustriert. Es ist einfach zu viel", sagt San Franciscos Polizeipräsident Bill Scott: "Es geht nicht, dass jeder hier hinkommen und sich benehmen kann, wie er will, ohne dass das Konsequenzen hat." Der Afroamerikaner, der als Sohn eines US-Soldaten vier Jahre seiner Kindheit im pfälzischen Pirmasens zubrachte, hat keinen einfachen Job: Ein Viertel seiner 2000 Planstellen ist unbesetzt. Nachwuchs ist nicht einfach zu finden. Die Mieten in der Stadt kann ein einfacherer Beamter nicht bezahlen, und die Polizei hat im hiesigen linksliberalen Milieu nicht den besten Ruf.
So scheint die zehnköpfige Einheit, die seit Anfang Juni speziell den offenen Drogenmarkt in der Innenstadt überwacht, eher symbolischen Charakter zu haben. 50 Personen, die sich oder andere gefährdeten, wurden in den ersten zwei Wochen festgenommen. 40 verbrachten ein paar Stunden im Gefängnis. Keiner akzeptierte eine freiwillige Entzugsbehandlung. Doch die Truppe wird aufgestockt, die Sanktionen werden verschärft: Bei der zweiten Festnahme droht künftig eine Pflichtbehandlung.
"Tough love" (strenge Liebe) nennt Bürgermeisterin Breed diese Strategie. Ob sie wirkt, ist offen. "Natürlich lösen wir mit den Festnahmen nicht die Drogensucht", sagt auch Polizeichef Scott: "Aber wir wollen die Leute für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen." Das freilich hat seine Grenzen. Nach kalifornischem Recht werden Ladendiebstähle unter 950 Dollar als Ordnungswidrigkeit nicht strafrechtlich verfolgt.
"Ich muss kämpfen", sagt Ladenbesitzer Hanna
"Selbst wenn sie jemanden schnappen, ist er am nächsten Tag wieder auf der Straße", beklagt sich Sam Hanna, der Kioskbesitzer aus der New Montgomery Street. Er ist von der Leere in der Innenstadt und der Alltagskriminalität gleichermaßen betroffen: "Viele meiner Kunden arbeiten jetzt zu Hause und bleiben weg. Anderen ist es hier einfach zu unsicher geworden." Für diesen Artikel möchte sich der durchtrainierte Mann nur von hinten fotografieren lassen, er wolle keinen Ärger mit der Stadt, erklärt er. Um fast die Hälfte ist sein Umsatz gegenüber der Vor-Corona-Zeit eingebrochen. Sein Laden konnte nur überleben, weil der Hausbesitzer die Miete senkte. "Ich muss kämpfen", sagt Hanna. Er möchte nicht aufgeben, noch nicht. "San Francisco ist eine der schönsten Städte der Welt." Seine Stimme klingt wehmütig.