
Es liegen bereit: belegte Brote, Cola und Nektarinen. An einer bulgarischen Raststätte macht Familie Erdem aus Wuppertal eine kurze Pause auf ihrem Weg nach Malatya im Osten der Türkei. „Wir sind gestern früh um acht Uhr losgefahren, und jetzt sind wir fast da“, erzählt Familienvater Özgür Erdem. Fast da heißt: „Wir haben noch tausend Kilometer vor uns.“
Der Parkplatz steht voller Autos mit Dachboxen und deutschen Nummernschildern, auf der Grünfläche werden Decken ausgerollt und Kindern etwas Bewegung gegönnt. Mit den Sommerferien ziehen hunderttausende türkischstämmige Deutsche in einer alljährlichen Karawane über den Balkan. Mehr als 100.000 Auslandstürken haben seit Anfang Juni mit ihren Autos die türkische Grenze erreicht; in den kommenden Wochen, wenn unter anderem auch Bayern in die Ferien startet, erwarten die türkischen Behörden hier insgesamt eine Million Menschen.
Früher war die Reise von Deutschland in die Türkei beschwerlicher: ohne Klimaanlage in kilometerlangen Staus
Dreieinhalbtausend Kilometer sind es von Wuppertal nach Malatya, und Özgür Erdem und seine Frau Hüsniye wechseln sich am Steuer ab. Eigentlich wollten sie unterwegs in Österreich oder Kroatienübernachten, doch die beiden Kinder hätten gedrängelt, erzählt Özgür Erdem, der in Nordrhein-Westfalen als Installateur arbeitet. „Die haben gesagt, komm, Mama, Papa, ihr könnt ja wechseln, und dann fahrt ihr einfach durch.“ Die Reise sei bisher auch überraschend glatt gelaufen. „Sehr schön, überall wo wir waren“, sagt der halbwüchsige Sohn Cuan. „Wir waren in Serbien, durch Slowenien sind wir gefahren, Österreich war total schön.“ Sogar die bulgarischen Zöllner, die bei den türkischstämmigen Autofahrerinnen und -fahrern einen schlechten Ruf haben, seien nett gewesen, sagt Özgür Erdem. „Wir haben gedacht, hier würden die versuchen, einem irgendwie Geld aus der Tasche zu zapfen. Aber die waren ganz höflich.“
Die Erdems passen zu viert bequem in ihren Mercedes; das meiste Gepäck ist in der Box auf dem Autodach verstaut. Der Vater hat Whisky und Schokolade für die Verwandtschaft dabei, denn „der schmeckt die deutsche Schokolade so gut“. Auf dem Rückweg will er den freien Platz mit Kleidung füllen, die in der Türkei wesentlich billiger ist als in Deutschland, und mit Aprikosen aus Malatya. Anders als viele andere Familien auf dem Parkplatz fahren die Erdems in diesem Jahr zum ersten Mal mit dem Auto; bisher flogen sie immer für den Urlaub in die Türkei. „Was ich von meinen Eltern hörte – ohne Klimaanlage und dann kilometerlange Staus, also das war früher stressig“, sagt Özgür Erdem, dessen Eltern die lange Reise vor einer Generation schon antraten. „Aber heute haben die Autos Klimaanlage und die Fahrbahnen sind ein bisschen ausgebaut, und dann haben wir gesagt, probieren wir es mal.“
Die Limousinen, Geländewagen und Kleinbusse auf der Raststätte sind häufig gehobener Klasse, die meisten haben Kennzeichen aus Nordrhein-Westfalen; in dem Bundesland, das in diesem Jahr als Erstes in die Ferien startete, lebt jeder dritte deutsche Bürger mit türkischen Wurzeln. Sie haben dieses Jahr eine Extraportion Glück: Wegen ihres frühen Ferienbeginns können sie rechtzeitig zum islamischen Opferfest bei ihren Verwandten sein. Dieses ist vom Rang vergleichbar mit Weihnachten.
Arafat Cetinkaya hat seine Mutter schon vorher mit dem Flugzeug in die Türkei gebracht
Neben ihrem geräumigen Geländewagen rasten auch die Cetinkayas aus Duisburg mit ihren fünf Kindern auf ihrem Weg ins zentralanatolische Kayseri. Familienvater Arafat Cetinkaya hat seine Mutter schon vorher mit dem Flugzeug in die Türkei gebracht, weil die Autofahrt für sie zu anstrengend gewesen wäre. Dann ist er zurückgeflogen, um Frau und Kinder mit dem Auto zu holen. Alle fliegen zu lassen, sei zu teuer, sagt Cetinkaya: „Wenn ich mit der kompletten Familie fliegen würde, kostet mich das 4000 bis 5000 Euro. Mit Auto hin und zurück sind es 1500 Euro, sagen wir mal 2000 Euro allerhöchstens. Du hast dann aber immer noch zweitausend, dreitausend in der Tasche, die du da drüben ausgeben kannst.“
Seine Frau, vier Töchter und der kleine Sohn reisen mit Cetinkaya, der als Bauleiter im Tagebau bei Aachen arbeitet. Die Dachgepäckbox sei vor allem mit den Outfits der Mädchen gefüllt, sagt der Familienvater mit einem Zwinkern: „Weil die Tasche ja immer zu den Schuhen passen muss.“ Die Familie fährt jedes Jahr nach Zentralanatolien. „Ich bin es gewohnt, und das Auto auch“, sagt Cetinkaya. „Aber ich fahre nicht schnell, nur normales Tempo, weil ich Familie dabei habe – die hat man nur einmal und nicht zweimal.“ In Kayseri, wo die Familie ein Haus besitzt, will Cetinkaya das Grab seines Vaters besuchen und ansonsten „relaxen, essen, trinken, spazieren gehen“.
Eine Parkbucht weiter rollt Funda Süner aus Gladbeck die Teppiche und Decken ein, die sie zum Picknick neben ihrem Kleinbus auf einer Grasböschung ausgelegt hat. „So, seid ihr alle satt?“, fragt sie ihre Familie und die ihrer Schwester, deren Wagen nebenan parkt. „Weil jetzt fahren wir richtig durch bis abends.“ Ins westtürkische Aydin wollen die Süners in diesem Jahr fahren, denn ihre Ursprungsregion im südanatolischen Hatay ist vom Erdbeben zerstört. Verwandtenbesuch fällt diesmal aus, deshalb wollen sie stattdessen Urlaub am Meer machen. Statt 1800 weitere Kilometer nach Hatay haben sie von der Raststätte aus diesmal nur noch tausend Kilometer zu fahren.
Die Türkin Funda Süner hat für ihre Kinder chinesische Nudeln gekocht
„Die wollen wir heute noch schaffen“, sagt die sechsfache Mutter, die mit lila Kopftuch und rotem Lippenstift auch nach 2000 Kilometern auf der Autobahn noch aussieht wie ein Fotomodell. „Ich habe ja einen sehr, sehr guten Fahrer an meiner Seite, meinen Ehemann.“ Sie kümmert sich dafür um die Kinder, die aber gut mitmachten – von der 16-Jährigen bis zur Zweijährigen. „Klar gibt es da manchmal Streitigkeiten untereinander, aber das wird dann ganz schnell geschlichtet“, erzählt sie. „Wir wissen, wenn die ein bisschen kaputt sind, dann halten wir einfach an. Die toben ein bisschen, dann kriegen die ordentlich was zu trinken, und wir steigen wieder ein.“
Chinesische Fertignudeln hat Funda Süner auf der Grasböschung am Parkplatz für die Kinder gekocht. „Das ist so praktisch“, sagt sie. „Ich habe meinen Campingkocher, meinen Topf, dann die Nudeln rein, ein bisschen Wasser – die Kinder freuen sich, die sind satt.“ Für ihren Mann am Steuer gab es dazu noch starken türkischen Tee – „der hält richtig wach“. Großes Gesprächsthema beim Picknick ist das zweijährige Nesthäkchen, das auf der Fahrt trocken geworden ist. „Die Kleine sieht, dass jeder sagt, ich muss auf Toilette, ich muss auf Toilette“, erzählt die Mutter. „Und dann kam sie an: Mama, ich muss zur Toilette.“ Die Windeln braucht sie jetzt nicht mehr.
Wie viele Reisende auf der Raststätte sind die Süners schon in zweiter Generation unterwegs auf dieser Strecke und wissen die ausgebauten Autobahnen und Grenzstationen zu schätzen. Im Vergleich zu den Fahrten ihrer eigenen Kindheit mit ihren neun Geschwistern hätten ihre Kinder es heute bequem, sagt Funda Süner. „Wir sind damals mit zwölf Mann ohne Klimaanlage durch Jugoslawien gefahren,“ erzählt sie. „Das war extrem gefährlich.“ Auch in Griechenland seien die Straßen damals schlecht gewesen, und die Strecke führte durch die Berge. „Also, es war verdammt schwierig“, sagt Süner. „Wir hatten Angst, und wir waren erschöpft.“
Staus an den Grenzen sind heute das größte Hindernis
Heutzutage sind Staus an den Grenzen das größte Hindernis. Sieben Stunden lang warteten die Süners voriges Jahr am Grenzübergang von Serbien nach Bulgarien. Funda Süner graute es schon davor, doch diesmal ging alles glatt. „Mein Mann sagte: 'Da ist die Grenze', und ich sagte: 'Das kann nicht sein – wo ist der Stau?'“
Letztes Nadelöhr ist die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei, wo derzeit täglich mehr als tausend Autos aus Deutschland ankommen. Dabei hat die große Karawane gerade erst begonnen: Wenn in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Hessen– wo zusammen die Hälfte der drei Millionen Deutsch-Türken leben – die Ferien beginnen, wird es einen weiteren Schub auf der Balkanstrecke geben.
Funda Süner verstaut die Teppiche und Decken im Wagen. Ihr Mann raucht noch eine Zigarette, bevor er sich wieder ans Steuer setzt, die Kinder klettern auf ihre Sitze. Es ist früher Nachmittag – bis zum späten Abend, zweieinhalb Tage nach der Abfahrt in Gladbeck, will die Familie in Aydin ankommen. Erst wenn im August das neue Schuljahr in Nordrhein-Westfalen ansteht, werden sich die Süners und hunderttausende andere Deutsch-Türken wieder auf die Piste machen: zur großen Rückreise nach Deutschland.