Auf den ersten Blick ist an diesem Morgen alles wie immer vor der Westminster Abbey im Herzen Londons. Während manche sie auf ihrem Weg zur Arbeit kaum eines Blickes würdigen, machen andere Selfies oder betrachten die reich geschmückte Fassade. In der Kirche herrscht wie üblich reger Betrieb. Hunderte Touristinnen und Touristen schieben sich durch die teils engen Gänge, vorbei an den Gräbern von Königen und Königinnen wie Henry III. oder Elizabeth I. Schon bald wird die einstige Klosterkirche wieder im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit stehen – wenn König Charles III. am 6. Mai in ihr gekrönt wird. Für Schlagzeilen sorgte zuletzt in Großbritannien, dass der Ex-Ehemann seiner Frau Camilla dabei sein werde, noch dazu in der ersten Reihe. Im Gegensatz zur Ex-Frau von Prinz Andrew, Sarah Ferguson, wie es hieß.
Wer an diesem Tag etwas genauer hinsieht, bemerkt, dass eben doch nicht alles ist wie sonst. Eine junge Frau entstaubt mit einem tragbaren Sauger Verzierungen einer erhöhten Galerie. Und Restauratoren bringen auf eisernen Zaunspitzen Blattgold an. „Vielleicht gehen sie heute auch mit ein bisschen Goldstaub auf ihrer Kleidung nach Hause“, scherzt Stephen Hutt, ein Mesner, der rund 20 Besucherinnen und Besucher herumführt. Knapp zwei Wochen vor der Krönung laufen die Vorbereitungen für die Zeremonie auf Hochtouren, auch hier.
Der "Krönungsstein" kehrt nach London zurück
Nach einem schnellen Ritt durch die britische Geschichte führt Hutt die Gruppe zu einem Artefakt, das derzeit besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zieht: der Krönungsstuhl. Auf ihm wird Charles sitzen. Der Stuhl sei um das Jahr 1300 von KönigEdward I. in Auftrag gegeben worden, erklärt Hutt. Als Überbau zum "Stone of Scone", dem Krönungsstein. Den hatte der Monarch den Schotten gestohlen. Eine Demonstration seiner Macht über die von jeher nach Unabhängigkeit strebenden Bewohner des Insel-Nordens. Es dauerte 700 Jahre, bis die Schotten den Stein wieder bekamen – als Premierminister John Major 1996 entschied, ihn zurückzugeben.
"Für den Zeitraum der Krönung soll er jedoch wieder nach London gebracht werden. Es sei denn, die Schotten überlegen es sich noch einmal anders", scherzt Hutt und blickt dabei auf den Thron, der wenig königlich wirkt. Von seiner einstigen Zierde ist kaum etwas übrig. Über die Jahrhunderte haben Pilger und Chorknaben ihre Namen in den Stuhl geritzt. Hutt sagt, er sei reich mit Tier- und Pflanzenmotiven bemalt gewesen. Dazu braucht es einiges an Vorstellungsvermögen.
Besser erhalten ist der Ort in der Kirche, an dem der hölzerne Thron im Mai stehen soll: Hutt stoppt nun vor einem goldenen Hochaltar, umgeben von einem Mosaikboden aus Marmor, Stein und Glas. Das Jahr der Fertigstellung: 1268. Er deutet auf einen runden Stein im Zentrum. "Wilhelm der Eroberer" habe 1066 diese Stelle ausgewählt, um zum König von England gekrönt zu werden, weil sein Vorgänger "Edward der Bekenner" kurz zuvor dort begraben worden sei. Alles atmet hier Geschichte.
Bei der Krönung von Charles III. werde vieles anders laufen, heißt es
Die letzte "Coronation", die von Charles' Mutter Elizabeth II., fand vor fast 70 Jahren statt. Millionen Menschen weltweit konnten sie am 2. Juni 1953 live im Fernsehen mitverfolgen. Ihr ältester Sohn beobachtete die Zeremonie als Vierjähriger von einer Tribüne aus, die rechts neben dem Hochaltar für die Royals aufgebaut worden war. So konnte er sehen, wie der damals 27-Jährigen vom Erzbischof von Canterbury die mit Juwelen besetzte "Imperial State Crown" aufgesetzt wurde während sie auf dem hölzernen Thron saß.
Auch wenn die Rituale gleich blieben, bei der Krönung von Charles III. werde vieles anders laufen als bei seiner Mutter, betont Hutt. Aktuell ist von etwa 3000 Gästen die Rede, bei seiner Mutter waren es rund 8000. Weil die Westminster Abbey für deutlich weniger Besucher ausgelegt ist, mussten hohe Tribünen gebaut werden. "Die Gäste haben zwei Stunden gebraucht, um in die Kathedrale zu gelangen und noch einmal zwei Stunden, um sie wieder zu verlassen", erzählt Hutt. Auch soll es diesmal weniger formell zugehen.
Die Abläufe am 6. Mai müssen dennoch geprobt werden. Damit Charles und Camillaüben können, wurden Nachbildungen jener Insignien, die in der Zeremonie zum Einsatz kommen, wie Zepter und Schwerter aus einer Vitrine in einer Galerie der Kirche entfernt. "Die Gegenstände werden für Proben im Buckingham-Palast genutzt", ist zu hören.
Wie viele Menschen, die in der Westminster Abbey einer Tätigkeit nachgehen, darf auch Stephen Hutt am Tag der Krönung mithelfen. Es herrsche eine gewisse Aufregung, erzählt er. "Schließlich hat so gut wie niemand eine solche Zeremonie jemals miterlebt. Das Ereignis ist damit gewissermaßen unbekanntes Terrain."