
Am 27. Juni 1993 ist der Spuk vorbei. Tief in der mecklenburgischen Provinz, im beschaulichen Bad Kleinen, sterben bei einem Schusswechsel mit der Polizei ein junger Beamter und der Terrorist Wolfgang Grams. Seine Komplizin Birgit Hogefeld wird festgenommen. Beide sind Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF), die Deutschland über fast drei Jahrzehnte mit ihrem Kampf gegen alles Etablierte in Atem gehalten hat. 34 Menschen fallen ihren Anschlägen zum Opfer – darunter Spitzenmanager wie Hanns-Martin Schleyer, Jürgen Ponto oder Alfred Herrhausen, aber auch Menschen, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort sind wie der Polizist Michael Newrzella in Bad Kleinen.
Was Grams und Hogefeld dort wollten, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Ein V-Mann hatte den Ermittlern erzählt, dass die beiden dort mit anderen gesuchten Terroristen verabredet waren – die aber werden an jenem Sonntagnachmittag nicht gefasst. Nach allem, was man vermutet, entkommen sie in einem alten Opel Kadett, in dem auch Daniela Klette gesessen haben soll, die am Montagabend nach mehr als 30 Jahren auf der Flucht in Berlin festgenommen wurde. Drei Monate vor Bad Kleinen soll sie auch an einem Sprengstoffanschlag auf das Gefängnis im hessischen Weiterstadt beteiligt gewesen sein, dem letzten Attentat der RAF.
Daniela Klette war ihr halbes Leben in der linksextremistischen Szene unterwegs
34 Jahre ist Daniela Klette damals jung, in Karlsruhe geboren und schon ihr halbes Leben lang in der linksextremistischen Szene unterwegs. Wie es ihr gelingen konnte, so lange unentdeckt zu bleiben, ist eines der großen Rätsel, die die Ermittler nun aufzulösen haben. In dem schmucklosen Mehrfamilienhaus am Rande des Szenebezirks Kreuzberg fiel sie jedenfalls kaum auf. Nachbarn beschreiben sie als freundliche, zurückhaltende und durchaus sympathische Frau, die lange im brasilianischen Kulturverein aktiv war, beim Karneval der Kulturen mitgetanzt und Schülern Nachhilfestunden in Mathe gegeben habe. Eine der meistgesuchten Personen Deutschlands – eine Anonyma aus dem fünften Stock, die ihren Hund Gassi führte wie andere auch, höflich grüßte und zu Weihnachten Kekse verschenkte.
Ob der Mann, mit dem sie angeblich zusammen in der Sebastianstraße 73 gewohnt hat, einer der beiden noch gesuchten Terroristen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg ist, ist unklar. Zumindest zeitweise soll Staub früher allerdings ihr Lebensgefährte gewesen sein. Der Rest ist Spekulation. Einen zwischenzeitlich verhafteten Mann lässt die Polizei am Mittwoch wieder frei: „Zweifelsfrei handelt es sich nicht um einen der beiden noch flüchtigen Straftäter.“ Für Berichte, nach denen die Polizei in Berlin einen weiteren Verdächtigen festgenommen hat, gibt es bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe keine Bestätigung.
Nach bislang nicht bestätigten Berichten lebte Daniela Klette in Berlin mit einem gefälschten italienischen Pass unter dem Namen Claudia Ivone. Identifizieren können die Ermittler sie trotzdem schnell: Nach der Festnahme von Brigitte Mohnhaupt im November 1982, einer der zentralen Figuren der zweiten RAF-Generation, durchsuchte die Polizei mehrere Wohnungen von mutmaßlichen Unterstützern und nahm auch Daniela Klette vorübergehend fest. Seitdem sind ihre Fingerabdrücke aktenkundig. Als sie am Montag verhaftet wird, leugnet sie deshalb auch nicht, die zu sein, für die Polizei und Staatsanwaltschaft sie halten und auf die sie schon im November durch einen Hinweis aufmerksam gemacht worden sind. Nach Informationen des Spiegel soll die 65-Jährige bei ihrer Festnahme sinngemäß gesagt haben: Irgendwann ist es vorbei.
Abgetaucht sein soll Daniela Klette um den Jahreswechsel 1989/90 herum
So oder so ähnlich geht es auch zehn Terroristen und Aussteigern aus der Mohnhaupt-Generation, die in den Achtzigerjahren mithilfe des Honecker-Regimes in der DDR untertauchen und dort bis zu ihrer Enttarnung nach dem Mauerfall das unauffällige Leben vermeintlich unbescholtener Bürger führen. In einem Forsthaus im brandenburgischen Friesen werden die RAF-Leute damals von der Staatssicherheit auf ihr neues Leben vorbereitet, selbst einige Stunden sächsischer Dialekt stehen auf ihrem Stundenplan. Aus Susanne Albrecht, die am Anschlag auf Jürgen Ponto, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, beteiligt war, wird so die Lehrerin Ingrid Jäger, die in Köthen in Sachsen-Anhalt lebt. Inge Viett verwandelt sich in die Dresdner Fotografin Eva Maria Sommer – und aus Werner Lotze wird Manfred Jansen, der als Kraftfahrer in Schwarzheide bei Cottbus arbeitet und in seiner Freizeit Ruderer trainiert. Silke Maier-Witt, die als Sylvia Beyer in einem Ostberliner Pharmabetrieb unterschlüpft, unterzieht sich auf Druck der Stasi sogar einer Gesichtsoperation, um nicht wiedererkannt zu werden.
Daniela Klette ist da noch in der Anti-Atomkraft-Bewegung aktiv, sie kämpft gegen den Bau der Startbahn West in Frankfurt und in der "Roten Hilfe" in Wiesbaden – einem lockeren Zusammenschluss vorwiegend junger, im radikal linken Milieu engagierter Leute, die sich für die Gefangenen der RAF einsetzen und von denen einige später selbst zu Terroristen werden. Grams und Hogefeld etwa lernt sie dort kennen. Ihr Leben in der Szene und im Untergrund lässt sich bisher allerdings nur mühsam und nur mit großen Lücken rekonstruieren. Abgetaucht sein soll sie um den Jahreswechsel 1989/90 herum, als ganz Deutschland sich gerade im Einheitstrubel befindet. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe wirft ihr neben dem Anschlag in Weiterstadt 1993 auch noch die Beteiligung an einem fehlgeschlagenen Sprengstoffanschlag auf die Deutsche Bank in Eschborn bei Frankfurt 1990 und die Beteiligung an einem RAF-Kommando vor, das 1991 aus einem Hinterhalt mindestens 250 Schüsse auf die US-Botschaft in Bonn feuert. Dazu kommt eine Serie von Raubüberfällen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, mit denen sie selbst und ihre noch flüchtigen Komplizen sich offenbar regelmäßig Geld beschafften, alles in allem rund zwei Millionen Euro. Die Waffen dafür, so vermuten die Ermittler, dürften aus alten Depots der RAF stammen, die sich 1998 offiziell aufgelöst hat.
Lange suchen die Zielfahnder die drei im Ausland, unter anderem in Spanien, zeitweise aber auch in Syrien oder im Libanon. Tatsächlich lebt zumindest Daniela Klette mitten in Berlin, und das offenbar schon seit mehr als 20 Jahren. Ist sie mit der Zeit einfach vom Radar der Behörden verschwunden? Hatte sie Unterstützung aus der in Kreuzberg traditionell starken linken Szene? "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das alles alleine geschafft hat", sagt der Journalist Stefan Aust, der seit Jahrzehnten über die RAF recherchiert und schreibt. Ein Foto aus einem offenbar von Daniela Klette angelegten Facebook-Account, das seit Dienstag im Internet und in einigen Medien kursiert, zeigt eine lächelnd in die Kamera blickende Frau, die schon leicht ergrauten Haare zu einem Zopf gebunden. Den mehr als 30 Jahre alten Fahndungsfotos sieht diese Frau deutlich ähnlicher als den Simulationen, in denen die Polizei sie mithilfe ihrer Computer künstlich hat altern lassen.
Eine führende Rolle soll Klette bei der RAF nicht gespielt haben
Welche Rolle Daniela Klette in der auf 20 Terroristen und 250 Unterstützer geschätzten dritten Generation der RAF gespielt hat, ist unklar, mutmaßlich keine führende – unstrittig der Kommandoebene zugerechnet werden damals nur Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld. Die Liste der Attentate, die ihnen und ihren Helfershelfern zugerechnet werden, ist allerdings lang und blutig. Sie reicht vom tödlichen Anschlag auf den Rüstungsmanager Ernst Zimmermann 1985 über den Siemens-Mann Heinz Beckurts und seinen Fahrer bis zum damaligen Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, und den Präsidenten der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, der im April 1991 von einem in einer Kleingartenanlage versteckten Scharfschützen in seinem Wohnhaus in Düsseldorf am Schreibtisch erschossen wird. Insgesamt rechnet die Generalbundesanwaltschaft der dritten Generation zehn Morde zu. Der an Rohwedder ist der letzte.
Vor dem Haus, in dem Daniela Klette sich so lange versteckt hat, ohne sich dabei wirklich zu verstecken, stehen auch am Mittwoch wieder mehrere Fahrzeuge der Polizei. Die Durchsuchung ihrer Wohnung unweit des ehemaligen Todesstreifens zwischen Ost- und Westberlin ist noch nicht abgeschlossen. Sie selbst sitzt nach übereinstimmenden Medienberichten im Frauengefängnis im niedersächsischen Vechta . Ob sie für die Taten aus der RAF-Zeit noch zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist allerdings fraglich, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung etwa ist bereits verjährt. Ein von der Bundesanwaltschaft vor Jahren erwirkter Haftbefehl wegen des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion und versuchten Mordes ist nach Angaben eines Behördensprechers zwar weiterhin in Kraft. Mit dem konkreten Nachweis einzelner Taten aber hat die Justiz sich vor allem in der dritten RAF-Generation bislang schwergetan. Damit ginge ein weiteres Kapitel deutscher Terrorgeschichte womöglich eher unspektakulär und wie ein gewöhnliches Verbrechen zu Ende – mit einer Verurteilung für sechs Überfälle auf Supermärkte und Geldtransporter.